Rz. 56
Die Auffassungen weichen voneinander ab, soweit es darum geht, den höheren Grad an Fahrlässigkeit, der die Leichtfertigkeit auszeichnet, näher zu bestimmen. Im Wesentlichen lassen sich drei Meinungen unterscheiden.
Die h.M. geht von der Überlegung aus, dass sich der Begriff der Leichtfertigkeit im StGB und in anderen strafrechtlichen Nebengesetzen, vornehmlich bei erfolgsqualifizierten Delikten, findet (z.B. in § 97 Abs. 2, § 138 Abs. 3, §§ 178, 264 Abs. 4, § 316c Abs. 3, § 330a Abs. 5, § 345 Abs. 2 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. 3 BtMG) und dass bei diesen Vorschriften eine weitgehend gefestigte Judikatur besteht. Nach dieser Rspr. entspricht der Begriff der Leichtfertigkeit etwa dem der groben Fahrlässigkeit des Zivilrechts, stellt im Gegensatz hierzu allerdings auf die persönlichen Fähigkeiten des Täters ab. Ein derartiges Verschulden liegt danach vor, wenn ein Stpfl. nach den Gegebenheiten des Einzelfalls und seinen individuellen Fähigkeiten in der Lage gewesen wäre, den aus den einschlägigen gesetzlichen Regelungen sich im konkreten Fall ergebenden Sorgfaltspflichten zu genügen. Hierzu ist eine Gesamtwertung seines Verhaltens erforderlich. Es besteht jedoch in der Rspr. auch Einigkeit darüber, dass es in diesem Zusammenhang belastende und entlastende Indizien gibt, so dass es nicht möglich ist, für einen Einzelfall aus einer allgemeinen Definition heraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Zu den entlastenden Indizien zählen z.B. Krankheit und Alter, sofern sie so schwerwiegend sind, dass sie zu einer Beeinträchtigung der Handlungs- und Erkenntnisfähigkeit führen; zu den belastenden hingegen unkontrollierte Delegation der Erfüllung der Steuerpflicht oder gänzliche Verweigerung der steuerlichen Pflichten.
Bereits zu der Vorläufervorschrift des § 402 AO führte der BGH hierzu aus:
"Die Beschränkung auf ein leichtfertiges Handeln führte damit in den Tatbestand des § 402 AO (heute § 378) für den Begriff der Fahrlässigkeit ein Merkmal ein, wie es sich bereits in § 164 Abs. 5 StGB (aufgehoben durch das 1. StrRG vom 25.6.1969) bei der Strafandrohung für die nicht wider besseres Wissen begangene falsche Anschuldigung und in § 138 Abs. 3 StGB für die unterlassene Anzeige von Verbrechen findet. In den beiden Tatbeständen ist nämlich nicht Fahrlässigkeit schlechthin unter Strafe gestellt, sondern ‚Leichtfertigkeit‘. Sie hat die Rechtsprechung zu jenen Vorschriften, insbesondere zu § 164 Abs. 5 StGB, mit ‚grober Fahrlässigkeit‘ etwa gleichgesetzt (RG, JW 1936, 388). Diese Auslegung kann für die Bestimmung des Merkmals ‚leichtfertig‘ im Sinne des § 402 AO (heute § 378) gleichfalls zugrundegelegt werden. Anhaltspunkte, die es rechtfertigen könnten, den Begriff im Steuerstrafrecht anders als im allgemeinen Strafrecht auszulegen, sind nicht ersichtlich".
Leichtfertigkeit kommt danach in Betracht, wenn der Täter in grober Achtlosigkeit nicht erkennt, dass er den Tatbestand verwirklicht, oder er "nicht das beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten mußte". Es muss sich somit um einen besonders groben Verstoß, der sich förmlich aufdrängen muss, handeln. Der Täter muss mit besonderem Leichtsinn oder mit besonderer Gleichgültigkeit gegenüber seinen steuerlichen Pflichten handeln.
Rz. 57
Demgegenüber wird in älterer Literatur die Ansicht vertreten, dass die anhand der allgemeinen Straftatbestände entwickelte Definition der Leichtfertigkeit nicht auf die leichtfertige Steuerverkürzung gem. § 378 AO übertragen werden könne. Hier bezeichne der Begriff "Leichtfertigkeit" ein vorwerfbares Verhalten, das noch über den Grad der groben Fahrlässigkeit hinausgehe. Diese von Kühn begründete Meinung definiert die Leichtfertigkeit als ein Verhalten des Täters, das – und zwar nicht nur insoweit, als es für die eingetretene Steuerverkürzung ursächlich ist – Gleichgültigkeit gegenüber der steuerlichen Ordnung und an Gewissenlosigkeit grenzende Nachlässigkeitin Bezug auf die Wahrnehmung steuerlicher Pflichten erkennen lässt. Nach dieser Auffassung erfasst die Leichtfertigkeit nur die ganz extremen Fälle der groben Fahrlässigkeit.
Rz. 58
Einen weiteren Versuch der konkreten Grenzziehung hat Kopacek unternommen. Er hält eine Abgrenzung von Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit nach objektiven Maßstäben für möglich, indem er die in einem gegebenen Fall zu beachtenden Sorgfaltspflichten unterteilt in normale und solche, die sich aus den besonderen Umständen des Falls zusätzlich ergeben. Verletze der Täter nur die normalen Sorgfaltspflichten, so handele er fahrlässig. Ergäben sich aus der besonderen Fallgestaltung noch zusätzliche Sorgfaltspflichten und verletze er auch diese, so handele er leichtfertig.