Rz. 112
Weit eher ist der steuerliche Berater dem Vorwurf vorsätzlicher bzw. leichtfertiger Steuerverkürzung ausgesetzt, wenn er z.B. bei einer Aktivierungs- und Bewertungsfrage bewusst von einer ihm bekannten höchstrichterlichen Rspr. und der dadurch geprägten Verwaltungsansicht abweicht, ohne dies in der Steuererklärung kenntlich zu machen. Bei der Thematik "abweichende Rechtsauffassung" handelt es sich gleichwohl um ein grundsätzliches, den Stpfl. und nicht allein seinen Berater betreffendes Problem.
Selbstverständlich ist es dem Berater unbenommen, eine von höchstrichterlicher Rspr. und Steuerrichtlinien abweichende Meinung zu vertreten. Präjudizien und Verwaltungsvorschriften entfalten keine allgemeine Bindungswirkung. Gerichtsentscheidungen haben unmittelbare Wirkung nur inter partes (§ 110 Abs. 1, § 121 Satz 1 FGO). So nimmt ja auch die Finanzverwaltung mit ihren sog. Nichtanwendungserlassen für sich in Anspruch, Gerichtsentscheidungen nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus anzuwenden. Die Nichtbeachtung von Steuerrichtlinien kann keine straf- bzw. bußgeldrechtlichen Konsequenzen auslösen.
Zudem erfordert der Tatbestand des § 370 Abs. 1 AO i.V.m. § 378 Abs. 1 Satz 1 AO die Angabe unrichtiger oder unvollständiger steuererheblicher Tatsachen bzw. das In-Unkenntnis-Lassen über steuererhebliche Tatsachen, so dass Schlussfolgerungen, insb. juristische Werturteile und Subsumtionen, nicht darunterfallen (s. § 370 Rz. 237). Legt der steuerliche Berater daher umfassend und der Wahrheit gemäß den steuerlich erheblichen, auf Tatsachen gestützten Sachverhalt dar, ist bereits der objektive Tatbestand der §§ 370, 378 AO nicht verwirklicht, mögen daraus auch unrichtige steuerliche Schlussfolgerungen gezogen werden.
Beispiel
Die amerikanische Muttergesellschaft X gewährt den Führungskräften ihrer deutschen Tochtergesellschaft Y sog. Stock Options. Diese geben das Recht, Anteile des Unternehmens zu einem festgelegten Vorzugspreis zu kaufen. Nach einer Haltefrist von zwei bis fünf Jahren können die Optionen in Aktien getauscht werden. Geschäftsführer G der Y-GmbH fragt bei seinem Steuerberater nach, ob er auf die Optionen der Mitarbeiter Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer und Sozialversicherungsbeiträge anmelden und abführen muss.
Wenn der Steuerberater der Y-GmbH rät, sich hinsichtlich der Besteuerung der Stock Options der Mindermeinung anzuschließen und den Lohnsteuerabzug entgegen der höchstrichterlichen Rspr. (zu der Methode der Vorbesteuerung s. z.B. Portner) und der Auffassung der Finanzverwaltung nicht vorzunehmen, so besteht das aufgezeigte Straf- und Bußgeldrisiko, das nur bei Unterrichtung des Betriebsstätten-FA vom Sachverhalt und der abweichenden lohnsteuerlichen Beurteilung gänzlich ausgeschlossen werden kann. Folgt er dagegen der h.M., so verbleibt lediglich bezüglich des Zeitpunkts ein geringer Spielraum, nämlich bereits bei Gewährung oder erst bei Ausübung, der dann in der Steuererklärung kenntlich gemacht werden sollte.
Wegen der Formalisierung der Steuererklärungen, die allein die Mitteilung quantifizierter Besteuerungsgrundlagen, bei Steueranmeldungen sogar die Berechnung der Steuer erfordern, wird jedoch zumeist eine unzutreffende rechtliche Wertung dazu führen, dass sich eine nach Rspr. oder Verwaltungspraxis zu berücksichtigende Position in der Steuererklärung nicht niederschlägt und diese damit nicht sämtliche steuererheblichen Tatsachen enthält.
Beispiel
Steuerberater S hat bestimmte Einnahmen seines Mandanten in die Steuererklärung nicht aufgenommen, weil er sie für steuerfrei gehalten hat.
In der Steuererklärung werden unvollständige Angaben i.S.d. § 370 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 378 Abs. 1 Satz 1 gemacht.
Andererseits enthalten viele Rechtsbegriffe, wie z.B. Betriebsausgaben oder Werbungskosten, einen Tatsachenkern, wenn zugleich damit erklärt wird, die für die Qualifizierung erforderlichen Umstände hätten vorgelegen.
Beispiel
Im Rahmen einer Erbauseinandersetzung erwirbt Mandant M im Jahre 1980 ein Mietwohngrundstück. Um die Miterben abfinden zu können, nimmt er einen Kredit in entsprechender Höhe auf. In der Steuererklärung für den Veranlagungszeitraum 1980 berücksichtigt sein Steuerberater S die hierfür angefallenen Schuldzinsen als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung, ohne offenzulegen, wofür die Zinsen gezahlt wurden. Entgegen der damaligen höchstrichterlichen Rspr. halten S und M den Werbungskostenabzug für zulässig. M wird vom FA entsprechend seiner Erklärung zur Einkommensteuer veranlagt.
Ausgehend von der höchstrichterlichen Rspr. ist der Werbungskostencharakter der Schuldzinsen zu verneinen, da es sich bei der Erbauseinandersetzung um einen in der Privatsphäre liegenden Vorgang handelt. Infolge der unrichtigen Auslegung des § 9 Abs. 1 Nr. 1 EStG handelt es sich bei den angefallenen Schuldzinsen also um steuerlich unerhebliche Tatsachen. Durch die verkürzte Angabe "Schuldzinsen" wird demgegenüber erklärt, dass ...