Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 1045
Ziel jedes Strafprozesses ist es, die Wahrheit zu erforschen, doch verbietet es sich aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, diese Wahrheitserforschung "um jeden Preis zu betreiben". So kann das staatliche Interesse an der Aufklärung von Straftaten hinter anderen (übergeordneten) Interessen zurücktreten. Der Verhinderung einer derart uneingeschränkten Erforschung der Wahrheit und der Wahrung solcher Interessen dienen ganz wesentlich im Einzelfall die sog. Beweisverwertungsverbote (im Folgenden BVV). Ihnen kommt eine entscheidende "Bremsfunktion" zu.
Hierbei handelt es sich um eines der zentralen Themen des Strafverfahrensrechts. In diesem Bereich ist vieles streitig, insb. was die dogmatische Begründung, Inhalt und Umfang sowie die systematische Einordnung von Verwertungsverboten anlangt. Selbst hinsichtlich der Terminologie herrschen Unklarheiten und unterschiedliche Auffassungen. Wegen der Einzelheiten wird auf die erwähnte Literatur verwiesen.
Rz. 1046
BVV ergeben sich nur in den seltensten Fällen aus dem Gesetz (vgl. § 100d Abs. 2 Satz 1, Abs. 5 StPO, § 136a Abs. 3 Satz 2 StPO, § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO; § 393 Abs. 2 AO, § 97 InsO). Nicht jede fehlerhafte Beweiserhebung löst jedoch nach h.M., insb. der Rspr., ein BVV aus. Schlagwortartig lassen sich die Grundprinzipien der h.M. wie folgt zusammenfassen:
Rz. 1047
Der BGH hat in dem Zusammenhang die sog. Rechtskreistheorie entwickelt. Bei Beweiserhebungsverboten, die ausschließlich dem Schutz des Staates (z.B. §§ 54, 96 StPO) oder dritter Personen (z.B. §§ 55, 81c StPO) dienen, sei zu differenzieren danach, ob ihre Verletzung den Rechtskreis des Beschwerdeführers wesentlich berührt oder ob sie für ihn nur von untergeordneter oder von keiner Bedeutung ist. Die Verletzung bloßer Ordnungsvorschriften solle nie zu einem Verwertungsverbot führen. Dieser generelle Lösungsansatz ist im Schrifttum – zu Recht – auf Kritik gestoßen. Auch wenn eine Norm nicht den Beschuldigten schützt, hat er trotzdem einen Anspruch auf ein justizförmiges Verfahren.
Ähnlich stellt die sog. "Schutzzwecklehre" auf den Schutzzweck der verletzten Norm ab. Oft ist der Schutzzweck aber strittig. Problematisch sind auch die Fälle, in denen die verletzte (Erhebungs-)Norm gar nicht kodifiziert ist. Dann fehlt ein Normzweck völlig.
Nach der sog. "Lehre vom informationellen Folgenbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch" sind rechtswidrig gewonnene Beweise unverwertbar, weil die Verwertung eine erneute Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung bedeutet.
Rz. 1048
Im Übrigen ist nach der "Abwägungslehre" der Rspr. im Einzelfall eine Interessenabwägung zwischen dem Schutz des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten einerseits und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse andererseits vorzunehmen.
Rz. 1049
Vermehrt wird in der Rspr. die Verwertbarkeit eines Beweismittels davon abhängig gemacht, ob es auch auf rechtmäßige Weise hätte erlangt werden können (sog. hypothetischer Ersatzeingriff). Für die willkürliche Verkennung des Richtervorbehalts nach § 105 StPO hat der BGH dies aber ausgeschlossen (s. Rz. 1151).
Rz. 1050
Schließlich können sich BVV auch unmittelbar aus dem GG oder durch Rückgriff auf anerkannte Verfassungsgrundsätze ergeben. Uneingeschränkt geschützt ist durch Art. 1, 2 GG der "unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung" (sog. Intimsphäre). Das betrifft insb. schriftliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder unter Verstoß gegen § 201 StGB erlangte Beweise. Selbst überwiegende allgemeine Interessen können Eingriffe in diesen absolut geschützten Kernbereich nicht rechtfertigen. Aus einem dagegen verstoßenden Eingriff resultiert ein Verwertungsverbot.
Vgl. in dem Zusammenhang auch das umfassende Verwertungsverbot gem. § 100d Abs. 2 Satz 1 StPO betr. Maßnahmen nach §§ 100a–100c StPO (s. Rz. 416, 1125, 1060).
Rz. 1051
Sonstige Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Privatbereich (etwa durch Durchsuchung und Beschlagnahme) sind bei überwiegendem Allgemeininteresse – soweit sie das Verhältnismäßigkeitsgebot wahren – hinzunehmen. Bei der Güterabwägung zu berücksichtigen sind Art und Schwere der in Rede stehenden Straftat, die Höhe der Straferwartung, das Vorhandensein anderer Aufklärungsmöglichkeiten, die Bedeutung des Beweisthemas für die Beurteilung der Tat-, Schuld- oder Strafmaßfrage, die Gewichtigkeit des Eingriffs, die Gewichtigkeit des etwaigen Verfahrensverstoßes und die Prüfung der Frage, ob das Beweismittel auch auf rechtlich zulässige Weise hätte erlangt werden können.
Rz. 1052
Insgesamt betrachtet ist festzuhalten, dass die Rspr. – sei es der BGH und das BVerfG im Bereich des Strafprozessrechts oder der BFH für den Bereich des Steuerrechts – Beweisverbote nur in Ausnahmefällen anerkennt. Auch die Finanzverwaltung rezipiert diese höchstrichterliche Rspr. (s. die wenig aussagekrä...