Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Ergänzender Hinweis: Nr. 18 Ziff. 1 Satz 2 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 18).
Rz. 19
Gemäß § 385 Abs. 2 AO finden die verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 385–408 AO bei dem "Verdacht einer Straftat, die unter Vorspiegelung eines steuerlich erheblichen Sachverhalts gegenüber der Finanzbehörde oder einer anderen Behörde auf die Erlangung von Vermögensvorteilen gerichtet ist und kein Steuerstrafgesetz verletzt", größtenteils entsprechende Anwendung (zu den Ausnahmen s. Rz. 21).
a) Begriff der "Vorspiegelungsstraftat"
Rz. 20
Da die Rspr. früher Sachverhalte, bei denen der gesamte Steuervorgang zum Zwecke der Täuschung erfunden wird, um Steuervergütungen zu erlangen oder Steuererstattungsansprüche geltend zu machen (= Vorspiegelungsstraftaten), als Betrug (§ 263 StGB) und nicht als Steuerhinterziehung wertete (s. Nachw. bei § 370 Rz. 432), war die Vorschrift, die den FinB auch die Verfolgungskompetenz bzgl. dieser Allgemeinstraftaten verlieh, von Bedeutung. Nachdem aber mittlerweile sämtliche fingierten Steuerfälle zwecks Erlangung ungerechtfertigter Steuervorteile, sowohl im Umsatzsteuerbereich (z.B. Erschleichen von Umsatzsteuervergütungen im Rahmen von Scheinfirmen) als auch im Ertragsteuerbereich (Erschleichen von Steuererstattungen aufgrund fingierter Steuerschuldverhältnisse) – auch bei Totalfiktion – von der Rspr. als vollendete Steuerhinterziehung und nicht mehr als Betrug (§ 263 StGB) eingestuft werden (s. § 370 Rz. 432, 584), ist diese Vorschrift nahezu obsolet geworden.
Bedeutsam war sie allenfalls noch für das Erschwindeln eines überhöhten Übernahmegeldes bei der Ablieferung von Branntwein als Betrug zum Nachteil der Bundesmonopolverwaltung (§ 128 BranntwMonG bis Ende 2017).
b) Inhalt der Ermittlungskompetenz
Rz. 21
Soweit § 385 Abs. 2 AO wegen der vorstehend aufgezeigten Erwägungen überhaupt noch Anwendung findet, führt die FinB die Ermittlungen bei Vorspiegelungstaten durch, wegen des Ausschlusses der § 386 Abs. 2 und §§ 399–401 AO jedoch nicht selbständig, sondern lediglich im Status einer mit den Rechten und Pflichten nach der StPO ausgestatteten Polizeibehörde i.S.d. § 402 Abs. 1, §§ 403 und 407 AO (s. § 386 Rz. 28, 60). Sie kann deshalb auch keinen Antrag auf Strafbefehl oder auf Anordnung von Nebenfolgen im selbständigen Verfahren stellen (§§ 400 f. AO).
Rz. 22
Eine selbständige Ermittlungsbefugnis dürfte meistens schon deswegen ausscheiden, weil der Täter zugleich andere Straftaten nichtsteuerlicher Art, namentlich Urkundenfälschung, begangen haben dürfte. Die Ermittlungsbefugnis ist dabei auf die Vorspiegelungstat beschränkt und erstreckt sich nicht auf prozessual einheitlich i.S.d. § 264 StPO begangene weitere allgemeine Straftaten (str., s. Rz. 95 f.; s. § 386 Rz. 59 f.).