Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
I. Entstehungsgeschichte
Rz. 1
Der gegenwärtige § 385 AO stimmt in seinem ersten Absatz inhaltlich überein mit der Vorläufervorschrift des § 420 RAO, die diese durch Art. 1 Nr. 1 AOStrafÄndG vom 10.8.1967 erhalten hat. Wegen des im Zuge der Strafrechtsreform geänderten Sprachgebrauchs und entsprechend dem Vorschlag der EAO 1974 wurde lediglich der Begriff "Steuervergehen" ersetzt durch "Steuerstraftaten".
§ 420 RAO 1968 ging wiederum zurück auf die inhaltsgleichen Vorschriften des § 420 RAO 1931 und § 385 RAO 1919, die folgenden Wortlaut hatten: "Die Strafprozeßordnung gilt, soweit die Steuergesetze nichts Abweichendes vorschreiben."
Rz. 2
Die Neufassung dieser ursprünglichen Regelung war neben sprachlichen auch durch sachliche Gründe bedingt. So sollte durch die beispielhafte Aufzählung der anwendbaren allgemeinen Gesetze klargestellt werden, dass nicht nur die StPO gegenüber den spezielleren Verfahrensvorschriften der AO subsidiär zur Geltung kommt. Infolge der Konzentration der Verfahrensvorschriften der AO 1977 wurde die Formulierung "soweit die Steuergesetze nichts Abweichendes bestimmen" ersetzt durch "soweit die folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmen".
Rz. 3
Eine erst durch die AO 1977 eingefügte Neuerung stellt der Abs. 2 des § 385 AO dar, der die Ermittlungsbefugnis der FinB bei sog. Vorspiegelungstaten regelt. Damit änderte sich auch die bisherige, durch das erste AOStrafÄndG 1967 eingeführte Überschrift der Norm in die heutige "Geltung der allgemeinen Vorschriften".
II. Zweck und Bedeutung der Vorschrift
Rz. 4
§ 385 Abs. 1 AO bildet das verfahrensrechtliche Gegenstück zur materiell-rechtlichen Vorschrift des § 369 Abs. 2 AO. Die Vorschrift enthält eine Generalverweisung auf die allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren und bringt damit zum Ausdruck, dass die AO für das formelle Steuerstrafrecht keine abschließenden, sondern nur einige ergänzende Regelungen trifft. Eigentlich kommt § 385 Abs. 1 AO deshalb lediglich deklaratorische Bedeutung zu, da wegen der offensichtlichen Unvollständigkeit der Verfahrensbestimmungen der AO ein Rückgriff auf die allgemeinen Strafverfahrensnormen auch ohne ausdrückliche gesetzliche Anordnung möglich wäre. Zumindest wird aber durch § 385 Abs. 1 AO klargestellt, dass die strafrechtlichen Verfahrensvorschriften der AO als leges speciales den allgemeinen Gesetzen über das Strafverfahren, insb. der StPO, dem GVG und dem JGG, vorgehen. Zudem wird dadurch trotz der fiskalischen Verortung in der AO die Nichtanwendbarkeit des Verwaltungsverfahrensrechts (1.–7. Teil der AO und das VwVfG) betont (vgl. auch § 2 Abs. 2 VwVfG).
Rz. 5
§ 385 Abs. 2 AO erweitert die Ermittlungskompetenz der FinB auf Delikte des allgemeinen Strafrechts, sofern ein steuerlich erheblicher Sachverhalt zur Erlangung von Vermögensvorteilen der FinB oder einer anderen Behörde gegenüber vorgespiegelt wird. Anlass für die Schaffung des § 385 Abs. 2 AO war die frühere Rspr. des BGH, die bei derartigen Sachverhalten Betrug gem. § 263 StGB und nicht Steuerhinterziehung nach § 370 AO annahm (s. § 370 Rz. 432). Dies hatte einerseits die unerwünschte Folge, dass nicht die FinB, sondern die StA für die Durchführung des Ermittlungsverfahrens zuständig war. Andererseits konnte sich die FinB durch das Steuergeheimnis daran gehindert sehen, solche ihr bekannt gewordenen Manipulationen an die Strafverfolgungsbehörden weiterzugeben (s. § 386 Rz. 163 ff.). Dieser unbefriedigende Zustand sollte durch den neu eingefügten § 385 Abs. 2 AO beseitigt werden. Die Bedeutung dieser Zuständigkeitsregelung hängt maßgeblich davon ab, ob man bei den sog. Vorspiegelungstaten an sich eine Steuerstraftat für gegeben hält, womit sich die Ermittlungskompetenz bereits aus § 386 Abs. 2 AO ergibt. Nach inzwischen gewandelter Rspr. des BGH ist dies der Fall, so dass der Anwendungsbereich der Vorschrift weitgehend leerläuft (s. Rz. 20 f.).
Rz. 6– 10
Einstweilen frei.