Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
1. Aussageverweigerungsrecht
Ergänzender Hinweis: Nr. 16, 46 Abs. 2 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 16, 46).
Rz. 143
Dem Beschuldigten steht im Strafverfahren das Recht zu, die Aussage zu verweigern (vgl. § 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a StPO), während er im Besteuerungsverfahren weiterhin zur Mitwirkung bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen verpflichtet ist, allerdings mit der Einschränkung, dass diese steuerlichen Pflichten nicht mehr mit Zwangsmitteln (§§ 328 ff. AO) durchgesetzt werden dürfen, wenn der Beschuldigte dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer Steuerstraftat oder -ordnungswidrigkeit zu belasten (§ 393 Abs. 1 AO). Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz des fairen Verfahrens und dem verfahrensrechtlichen Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung (sog. Grundsatz nemo tenetur se ipsum accusare, s. Rz. 145 sowie § 393 Rz. 16, 106 ff. sowie § 370 Rz. 304 ff.).
2. Keine Herausgabepflicht
Rz. 144
Mit der Aussagefreiheit korrespondiert eine Mitwirkungsfreiheit. Der Beschuldigte hat das Recht, nicht aktiv bei der Durchführung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen mitzuwirken. Er ist z.B. nicht verpflichtet, auf Aufforderung Beweisgegenstände herauszugeben und darf auch nicht zur Herausgabe gezwungen werden (s. Rz. 315). Der Beschuldigte darf nur zur Duldung des Augenscheins (z.B. bei einer Gegenüberstellung) gezwungen werden.
3. Verbot des Selbstbelastungszwangs
Ergänzender Hinweis: Nr. 16 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 16).
Schrifttum:
S. zunächst das Schrifttum vor § 393 Rz. 106; ferner: Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998; Joecks, Der nemo-tenetur-Grundsatz und das Steuerstrafrecht, in FS Kohlmann, 2003, S. 451; Matt, Nemo tenetur se ipsum accusare – Europäische Perspektiven, GA 2006, 323; Salditt, Bürger zwischen Steuerrecht und Strafverfolgung, in Mellinghoff (Hrsg.), DStJG 38 – Steuerstrafrecht an der Schnittstelle zum Steuerrecht, 2015, S. 277; Spilker, Abgabenrechtliches Mitwirkungssystem im Spannungsverhältnis mit dem Nemo-tenetur-Grundsatz, DB 2016, 1842; Verrel, Nemo tenetur-Rekonstruktion eines Verfahrensgrundsatzes, NStZ 1997, 361, 415; Verrel, Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001.
Rz. 145
Schweigerecht und Mitwirkungsfreiheit sind einzelne Ausprägungen des allgemeinen und umfassenden Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen. Der Grundsatz des nemo tenetur se ipsum accusare findet seine Grundlage in Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG und in Art. 14 Abs. 3g des UN-Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966.
Grundlegend hierzu hat das BVerfG im sog. Gemeinschuldner-Beschluss ausgeführt, dass jeder Zwang zur Selbstbelastung einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und das Persönlichkeitsrecht darstellt und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist. Danach kann der Beschuldigte frei darüber entscheiden, ob er als Werkzeug zur Überführung seiner selbst benutzt werden darf. Das BVerfG hatte zwar die außerstrafrechtlichen, auch auf strafbares Verhalten bezogenen Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Gemeinschuldners in der Insolvenz unbeanstandet gelassen, jedoch für die selbstbelastenden Angaben – solange ein Verwertungsverbot bzw. ein dieses absicherndes Offenbarungsverbot nicht gesetzlich geregelt war (s. heute aber § 97 InsO) – im Wege der ergänzenden Auslegung ein strafrechtliches Verwertungsverbot in Anlehnung an die entsprechenden Vorschriften der § 136a StPO, § 393 Abs. 2 AO anerkannt. Auf diese bedeutsame Entscheidung des BVerfG muss auch heute immer noch rekurriert werden, wenn es um die Anerkennung von strafprozessualen Verwertungsverboten im Steuerstrafverfahren wegen entsprechender Konfliktsituationen mit steuerlichen Erklärungs- und Mitwirkungspflichten geht und die berechtigte Forderung nach gesetzlichen Verwertungsverboten noch nicht erfüllt ist.
Die neuere Rspr. des BGH versucht insoweit einen Ausgleich zu schaffen, im Falle des Unterlassens durch Suspendierung der Strafbewehrung der steuerlichen Pflichten bzw. bei deliktisch erlangten Einkünften durch Reduzierung der steuerlichen Erklärungspflichten.
Zu näheren Einzelheiten s. § 370 Rz. 304 ff.; § 393 Rz. 16, 39, 55 ff., 106 ff.. Grundsätzlich zu Beweisverboten und zum Problem der Fernwirkung s. Rz. 1045 ff.