I. Gesetzessystematik
Rz. 46
§ 386 AO normiert ein Regel-Ausnahme-Verhältnis mit Rückverweisungsklausel für die StA.
Rz. 47
Zu unterscheiden ist zwischen der Zuständigkeitsverteilung, die sich kraft Gesetzes (§ 386 Abs. 1–3 AO und bei Konkurrenz mit Allgemeindelikt) ergibt und dem einvernehmlichen, ermessensgetragenen Zuständigkeitswechsel i.S.d. § 386 Abs. 4 AO.
Rz. 48
§ 386 Abs. 1 AO enthält den bisher schon bekannten Grundsatz, dass für die Erforschung von Steuerstraftaten die FinB zuständig ist. Damit ist allerdings noch keine Aussage darüber getroffen, wann und in welchen Fällen die FinB das Ermittlungsverfahren selbständig durchführt, wann sie die StA bei deren Ermittlungstätigkeit lediglich unterstützt und wann diese ihrerseits das Ermittlungsverfahren allein durchführt.
Rz. 49
Aufgrund der Gesetzessystematik ist § 386 Abs. 1 und 2 AO als Regel-Ausnahme-Vorschrift zu begreifen: Danach legt § 386 Abs. 1 Satz 1 AO die Grundkompetenz der FinB fest, die – im Umkehrschluss zu § 386 Abs. 2 AO – als Hilfsorgan für die StA im Steuerstrafverfahren tätig wird, während in den Fällen des § 386 Abs. 2 AO ausnahmsweise – mag dies auch in der Praxis die Regel sein – die FinB selbständig mit den Rechten und Pflichten der StA die Ermittlungen führen kann. In Haftsachen übernimmt dagegen die StA die Ermittlungen (Abs. 3), während Abs. 4 die Fälle variierender Zuständigkeit regelt.
Rz. 50
Im Einzelnen gilt für die Zuständigkeitsverteilung zwischen FinB und StA Folgendes (s. nachstehendes Schaubild):
Rz. 51
Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren wegen Steuerstraftaten
II. Allgemeine Ermittlungsbefugnis der FinB (§ 386 Abs. 1 Satz 1 AO)
1. Verdacht einer Steuerstraftat
Ergänzender Hinweis: Nr. 26 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 26)
Rz. 52
Gemäß § 386 Abs. 1 Satz 1 AO ermittelt "bei dem Verdacht einer Steuerstraftat ... die Finanzbehörde den Sachverhalt". Die Vorschrift verleiht der FinB eine unselbständige Ermittlungskompetenz, d.h. sie wird als Hilfsorgan der StA tätig und hat insoweit die Rechte und Pflichten entsprechend einer Polizeibehörde (§ 402 Abs. 1 AO), ergänzt um einzelne, den Ermittlungspersonen der StA vorbehaltenen Zwangsbefugnisse (§ 399 Abs. 2 Satz 2 AO). Wegen der Einzelheiten s. Rz. 28 und die Erl. zu § 402 und § 399.
Rz. 53
Der Begriff "Steuerstraftaten" ergibt sich aus § 369 Abs. 1 AO. Außer den Taten, die nach den Steuergesetzen (AO und Einzelsteuergesetzen) strafbar sind (insb. also gem. §§ 370, 373, 374 AO, § 26c UStG), zählen hierzu generell der Bannbruch (s. § 372 Rz. 52 ff.), die Wertzeichenfälschung (§ 148 StGB) und deren Vorbereitung (§ 149 StGB), soweit die Tat Steuerzeichen betrifft, die Begünstigung einer Person gem. § 257 StGB, die eine der genannten Taten begangen hat, sowie die Anstiftung (§ 26 StGB) und die Beihilfe (§ 27 StGB) zu einer vorstehend genannten Tat (vgl. dazu im Einzelnen die Erl. zu § 369). Auch soweit der gesamte steuerliche Sachverhalt erfunden wurde (z.B. Vortäuschen eines Steuerschuldverhältnisses), ist die Tat als Steuerhinterziehung und nicht als Betrug zu werten (zur gewandelten BGH-Rspr. s. § 370 Rz. 432).
Rz. 54
Die Ermittlungskompetenz der FinB i.S.d. § 386 Abs. 1 Satz 1 AO setzt den Verdacht einer Steuerstraftat (ausf. hierzu § 397 Rz. 4 ff.) voraus, der eine Verfolgungspflicht begründet (zum Legalitätsprinzip s. § 397 Rz. 4).
Den Begriff des Anfangsverdachts kennt die StPO nicht. Er wird jedoch § 152 Abs. 2 StPO entnommen (s. § 397 Rz. 5 ff.). Das Gesetz umschreibt das hiermit gemeinhin bezeichnete Erfordernis als das Vorliegen "zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte". Der Begriff des Anfangsverdachts markiert die Grenze, hinter der ein Bürger insb. mit strafprozessualen Zwangsmaßnahmen rechnen muss und ab der er formal als Beschuldigter zu behandeln und damit insbesondere nach § 136 Abs. 1 Satz 2, 3 StPO zu belehren ist. Gleichzeitig verhindert er, dass die Ermittlungsbehörden grenzenlos und ohne einen konkreten Bezug zu einer Straftat Daten erheben und sammeln. Aus § 152 Abs. 2 StPO folgt daher einerseits, ab wann die StA einschreiten muss und andererseits, ab wann sie einschreiten darf. Im Vergleich zu den übrigen in der StPO vorkommenden Verdachtsgraden, ist der Anfangsverdacht durch eine verhältnismäßig geringe Intensität gekennzeichnet. Eine genaue Abgrenzung ist jedoch insbesondere im Steuerstrafverfahren von Bedeutung, da hiervon abhängt, ob der Steuerpflichtige (noch) zur Mitwirkung verpflichtet ist und ...