1. Ausschließliches Vorliegen einer Steuerstraftat (§ 386 Abs. 2 Nr. 1 AO)
Rz. 66
§ 386 Abs. 2 AO erweitert diese Grundkompetenz und ermächtigt die FinB mit den Rechten und Pflichten der StA nach § 399 Abs. 1 AO zur selbständigen Führung der Ermittlungen, sofern die Tat ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt (Nr. 1) oder mit einer steuerabhängigen Straftat i.S.d. § 386 Abs. 2 Nr. 2 AO zusammenhängt.
Rz. 67
Bezieht sich der Verdacht auf eine Tat, die ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt, ermittelt die FinB den Sachverhalt in den Grenzen der §§ 399, 400 und 401 AO selbständig. Steuerstraftaten sind nur die in § 369 Abs. 1 Nr. 1–4 AO genannten Tatbestände sowie rechtlich gleichgestellte Straftaten.
Rz. 68
Der Begriff der "Tat" ist nicht im sachlich-rechtlichen Sinne der §§ 52, 53 StGB, sondern im prozessualen Sinne von § 264 StPO zu verstehen (s. näher mit Beispielen § 370 Rz. 900 ff.). Danach liegt eine einheitliche Tat auch dann vor, wenn mehrere Tathandlungen so miteinander verknüpft sind, dass ihre getrennte Verfolgung und Aburteilung in verschiedenen erstinstanzlichen Verfahren einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten würde. Eine "Tat" i.S.v. § 264 StPO umfasst somit ein einheitliches historisches Geschehen ohne Rücksicht darauf, ob Tateinheit i.S.d. § 52 StGB (s. § 370 Rz. 900 ff.) oder Tatmehrheit i.S.d. § 53 StGB vorliegt. Zum Tatbegriff im Steuerstrafrecht und zum Verbrauch der Strafklage s. auch § 370 Rz. 900 ff.; § 385 Rz. 47 ff.
Rz. 69
Wichtig ist diese Differenzierung vor allen Dingen im Hinblick auf die Verjährung der Tat und den Strafklageverbrauch. So verbraucht z.B. der Freispruch vom Vorwurf einer im steuerlichen Rechtsbehelfsverfahren abgegebenen falschen eidesstattlichen Versicherung die Strafklage wegen einer tateinheitlich begangenen Steuerhinterziehung. Auch die Einstellung des Verfahrens gem. § 153a StPO durch die FinB kann zu einem Strafklageverbrauch führen (s. § 398 Rz. 50 ff.).
Rz. 70
Folglich kommt § 386 Abs. 2 Nr. 1 AO auch dann zur Anwendung, wenn mehrere selbständige Steuerstraftaten miteinander im vorbezeichneten Sinne prozessual verbunden sind (s. Nachw. bei § 370 Rz. 900 ff. sowie nachst. Rz. 100).
Rz. 71
Da § 386 Abs. 2 Nr. 1 AO ausschließlich bei Steuerstraftaten eingreift, ist die selbständige Ermittlungsbefugnis ausgeschlossen, wenn diese mit allgemeinen Delikten zusammentreffen (s. Rz. 89 ff.). Zur str. Frage, ob sie insoweit unselbständige Ermittlungsbefugnis auch bzgl. der Nicht-Steuerstraftat hat, s. Rz. 92 ff.
2. Begleitdelikte (§ 386 Abs. 2 Nr. 2 AO)
a) Kirchensteuer und andere öffentlich-rechtliche Abgaben
Ergänzender Hinweis: Nr. 17 Abs. 1 Nr. 2 AStBV (St) 2020 (s. AStBV Rz. 17)
Rz. 72
Nach § 386 Abs. 2 Nr. 2 AO ist die FinB für die selbständige Ermittlung der Tat auch dann zuständig, wenn diese eine Steuerstraftat darstellt, zugleich aber auch andere Strafgesetze verletzt und deren Verletzung Kirchensteuern oder andere öffentlich-rechtliche Abgaben betrifft, die an Besteuerungsgrundlagen, Steuermessbeträge oder Steuerbeträge anknüpfen. Bei dieser zugleich verwirklichten "allgemeinen" Straftat handelt es sich – str. bei der Kirchensteuer (s. Rz. 78 ff.) – um einen sog. Abgabenbetrug i.S.v. § 263 StGB . Das bedeutet, dass die FinB auch zur Untersuchung der genannten Nicht-Steuerstraftaten befugt ist, wenn diese mit einer Steuerstraftat zu einer Tat im prozessualen Sinne des § 264 StPO verbunden sind.
Rz. 73
Diese Annexkompetenz ist sachgerecht, denn regelmäßig hängen die in § 386 Abs. 2 Nr. 2 AO bezeichneten Taten (sofern sie denn strafbar sind, s. Rz. 78 ff.) eng mit einer Steuerhinterziehung zusammen, die zumeist den Kern des Tatvorwurfs ausmacht. Gegebenenfalls kann die FinB daher bzgl. der Annextaten eine Beschränkung der Strafverfolgung gem. § 154a StPO vornehmen.
b) Kirchensteuer-Verkürzun...