Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
1. Erstzuständigkeit
Rz. 12
§ 390 Abs. 1 AO macht den Zuständigkeitsvorrang einer FinB davon abhängig, ob sie wegen der Tat als erste ein Strafverfahren eingeleitet hat. Gemäß § 397 AO ist ein Strafverfahren eingeleitet, sobald die zuständige Behörde – hier also die sachlich oder örtlich zuständige FinB – eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen (s. die Erl. zu § 397 Rz. 17 ff.).
Rz. 13
Welche von mehreren FinB das Strafverfahren zuerst eingeleitet hat, lässt sich wegen der Vorschrift des § 397 Abs. 2 AO anhand der Akten ohne weiteres feststellen. Danach ist nämlich die das Strafverfahren einleitende Maßnahme unter Angabe des Zeitpunkts unverzüglich in den Akten zu vermerken. Der Inhalt dieses Vermerks kann jedoch widerlegt werden. Treten im Nachhinein Zweifel an der Zuständigkeit einer FinB auf, weil eine andere zur selben Zeit das Strafverfahren eingeleitet hat, lässt sich – abgesehen von den Möglichkeiten des § 390 Abs. 2 AO (s. Rz. 21 ff.) – Abhilfe dadurch schaffen, dass die StA das Verfahren an sich zieht (§ 386 Abs. 4 Satz 2 AO) und es danach an eine der FinB wieder abgibt (§ 386 Abs. 4 Satz 3 AO). Selbstverständlich kann die StA das Ermittlungsverfahren unter Beteiligung einer der FinB (vgl. §§ 402 f. AO) auch selbst durchführen.
Rz. 14
Der Zuständigkeitsvorrang kann zudem fraglich sein, wenn eines der bei mehreren zuständigen FinB wegen derselben Tat anhängigen Strafverfahren von einem allgemeinen Strafverfolgungsorgan (StA/Polizei/Strafrichter) eingeleitet wurde. Entscheidend ist dann bei sachgerechter Interpretation des § 390 Abs. 1 AO nicht der Zeitpunkt, in dem die Akten von der verfahrensleitenden Stelle der FinB zugeleitet worden sind, sondern der Zeitpunkt, in dem die FinB erstmalig strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen aufgenommen hat. Wohlgemerkt geht es dabei nur um die Zuständigkeitsrechte der FinB "zweiter Hand" i.S.d. § 402 Abs. 1 AO.
Beispiel
Das Wohnsitz-FA hatte am 3.4. ein Verfahren gegen den Stpfl. S eingeleitet. Am selben Tag hatte die StA bei S wegen derselben Tat eine Durchsuchung durchgeführt und die Sache zu weiteren Ermittlungen an das FA am Ergreifungsort übergeben, das am 5.5. in dieser Sache erstmalig tätig wurde. Die Akten sind in Abstimmung mit der StA, der die Verfahrensleitung obliegt, dem vorrangig zuständigen FA zuzuleiten.
2. Einleitung eines Strafverfahrens
Rz. 15
Da in § 390 AO ausdrücklich von "Strafverfahren" die Rede ist, reichen steuerliche Ermittlungen oder die Einleitung eines Bußgeldverfahrens (§ 409 AO) zur Begründung der vorrangigen Zuständigkeit nicht aus. In diesem Fall ist der Zeitpunkt der Überleitung des Bußgeldverfahrens in das Strafverfahren maßgeblich.
Beispiel
Das FA X hat am 15.5. gegen B ein Verfahren wegen des Verdachts der leichtfertigen Steuerverkürzung eingeleitet. Wegen desselben Vorgangs hatte das ebenfalls zuständige FA Y am 25.7. wegen vorsätzlicher Steuerhinterziehung die Ermittlungen aufgenommen. Der Vorrang gebührt dem FA Y.
Rz. 16
Mit "Strafverfahren" i.S.d. § 390 Abs. 1 AO ist ausschließlich das "Steuerstrafverfahren" gemeint, denn nur diesbezüglich besitzt die FinB die Einleitungsbefugnis (s. § 386 Rz. 53 ff., 67 ff.).
3. "Wegen der Tat"
Rz. 17
Der Begriff der "Tat" ist im Rahmen des § 390 Abs. 1 AO im selben, d.h. prozessualen Sinne des § 264 StPO zu verstehen, wie dies bei §§ 386, 389 AO der Fall ist (s. ausf. § 386 Rz. 95 ff.; § 389 Rz. 23). Damit ist der gesamte geschichtliche Vorgang gemeint, wie er sich nach natürlicher Lebensauffassung einheitlich darstellt.
Rz. 18
Ist das Verfahren gegen einen bestimmten Beschuldigten eingeleitet worden, so ist für den Vorrang al...