aa) Einsichtsrecht der Verteidigung
Rz. 392
Die auf § 147 StPO basierende Akteneinsicht ist die wohl wichtigste Erkenntnisquelle der Verteidigung; Dritte – z.B. das Veranlagungsfinanzamt – können aus anderem Rechtsgrund (insbesondere §§ 406e, 474 ff. StPO) ebenfalls Einsichtsbefugnisse haben, insoweit ist der Beschuldigte aber anzuhören. Zum Zwecke der Förderung der elektronischen Akte hat das Akteneinsichtsrecht mit Blick auf die technischen Neuerungen seit dem 1.1.2018 einige Änderungen erhalten, die Grundstrukturen sind allerdings unverändert.
Rz. 393
Zur Akteneinsicht nach §§ 147, 32 ff. StPO ist der Verteidiger, damit auch der Steuerberater etc. in dieser Funktion, befugt (§ 147 Abs. 1 StPO). Dies kann auch für einen im Ausland ansässigen Verteidiger gelten. Zur Bedeutung der Akteneinsicht für den Verteidiger s. Rz. 391; zum Umfang in Haftsachen gem. § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO s. Rz. 429.
Rz. 394
Seit dem 1.1.2018 steht dieses bis dahin exklusive Verteidigerrecht auch dem unverteidigten Beschuldigten zu; sobald sich ein Verteidiger bestellt, geht das Recht des (nunmehr verteidigten) Beschuldigten unter (§ 147 Abs. 4 StPO). Der bislang bestehende Streit, ob der Beschuldigte selbst einen vergleichbaren Anspruch auf Akteneinsicht hat, ist damit für den unverteidigten Beschuldigten erledigt. Für den verteidigten Beschuldigten bleibt der Streit aber weiterhin virulent. Der BGH lehnt diesen Anspruch für den Regelfall ab. Mit dem EGMR wird man auch dem verteidigten Beschuldigten Akteneinsicht gewähren müssen, wenn davon auszugehen ist, dass der Beschuldigte selbst die Beweise hinsichtlich seiner Verteidigung besser einschätzen kann. Darüber hinaus müssen jedem Angeklagten die Akten vor der Hauptverhandlung grds. zugänglich sein. Bei konventionskonformer Auslegung des § 147 StPO hat somit unter bestimmten Voraussetzungen auch der verteidigte Beschuldigte einen Anspruch auf unmittelbaren Zugang zu den Akten. In der Praxis wird sich dieses Problem allerdings regelmäßig nicht stellen, da der Verteidiger befugt ist, eine Ablichtung der Akte an den Mandanten weiterzureichen (§ 19 BORA).
Rz. 395
Sobald ein Akteneinsichtsrecht besteht, können diesem datenschutzrechtliche Vorbehalte nicht entgegengehalten werden. Das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO stellt eine gesetzlich vorgesehene Datenverarbeitung dar und bildet so hinsichtlich den in der Akte enthaltenen Daten einen datenschutzrechtlichen Erlaubnistatbestand.
bb) Zeitpunkt der Akteneinsicht
Rz. 396
Entgegen der teilweise zu beobachtenden Praxis hat der Verteidiger gesetzessystematisch grundsätzlich ein umfassendes und sofortiges Akteneinsichtsrecht, das nur ausnahmsweise – im Falle der Gefährdung des Ermittlungszwecks (s. Rz. 426 ff.) – und zeitlich begrenzt – bis zur Beendigung der Gefährdung – beschränkt werden darf (vgl. § 147 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 StPO: "soweit"); mangels effektiver Rechtsmittel ist leider teilweise zu beobachten, dass Akteneinsicht erst gewährt wird, wenn es der Ermittlungsbehörde opportun oder unabweisbar (z.B. § 147 Abs. 2 StPO: Vermerk des Abschlusses der Ermittlungen oder Haft) erscheint.
Rz. 397
Eine Beobachtung der Praxis ist, dass die Akteneinsicht oft mit Standardschreiben bezüglich einer nicht näher begründeten Gefährdung des Untersuchungszwecks oder dem Verweis auf eine erfolgte Aktenversendung verweigert wird. Die Behauptung ersetzt aber nicht die erforderliche Gefährdung und auch der bloße Hinweis auf den Versand der Akten ist keine ausreichende Begründung zur Verweigerung der Akteneinsicht. Die Akte mag zurückgefordert und ggf. Doppelakten angelegt werden.
Rz. 398
Von drei Ausnahmen abgesehen, soll diese Entscheidung gem. § 147 Abs. 5 StPO nicht anfechtbar sein. Die gesetzlichen Ausnahmen sind keine Einsicht (1) obwohl der Abschluss der Ermittlungen vermerkt ist, (2) in Niederschriften und Gutachten i.S.d. § 147 Abs. 3 StPO oder (3) bei einem nicht auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten. Zu diesen und weit...