Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 95
Ist bereits ein Steuerstrafverfahren eingeleitet, ist fraglich, wie weit der sachliche Umfang der von dem Zwangsmittelverbot des § 393 Abs. 1 Satz 3 AO ausgehenden Sperrwirkung reicht.
Beispiel
Gegen S ist ein Steuerstrafverfahren eingeleitet worden, weil der Verdacht besteht, er habe freiberuflich erzielte Einkünfte in seiner Steuererklärung für 2010 nicht angegeben. Fraglich ist, ob ihm für den gesamten Einkommensteueranspruch 2010, und zwar auch für die nicht strafbefangenen übrigen Einkünfte 2010, infolge des Zwangsmittelverbots ein Aussageverweigerungsrecht zusteht oder ob er zu Angaben über andere Einkunftsarten, die in keinem Zusammenhang mit den Nebeneinkünften stehen (z.B. Kapitaleinkünfte), gezwungen werden kann.
So wird die Auffassung vertreten, das Mitwirkungsrecht könne nur insoweit nicht erzwungen werden, "soweit" der steuererhebliche Sachverhalt "straf- bzw. bußgeldbefangen" ist. Eine Offenbarungspflicht sei weiterhin dann gegeben, wenn für denselben Veranlagungszeitraum und dieselbe Steuerart Auskunft verlangt werde, die mit dem anhängigen straf- oder bußgeldrechtlichen Ermittlungsverfahren nichts zu tun habe. Der BFH stellt auf den sachlichen Zusammenhang ab. Danach gelte das Zwangsmittelverbot insoweit nicht, als sich aus der geforderten Mitwirkung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Rückschlüsse auf den Tatvorwurf ergäben.
Rz. 96
Diese Auffassung vermag nicht zu überzeugen. Auszugehen ist von der ratio des § 393 Abs. 1 Satz 3 AO, nach der bei einem laufenden Strafverfahren von vornherein mit der Gefahr der Selbstbelastung gerechnet werden muss. Die gesetzliche Vermutung des § 393 Abs. 1 Satz 3 AO ist allerdings nur insoweit begründet, wie der Gegenstand des betreffenden Strafverfahrens reicht. Daraus ist zu folgern, dass für die Auslegung des Merkmals "wegen der Tat" der strafprozessuale Begriff der Tat (§§ 155, 264 Abs. 1 StPO) maßgebend ist. Unter einer Tat in diesem Sinne ist der "einheitliche geschichtliche Vorgang" zu verstehen, der durch die Einleitung des Strafverfahrens (§ 397 AO) zum Gegenstand des Strafverfahrens gemacht worden ist. Der Begriff "wegen einer solchen Tat" muss deshalb weit gefasst werden. Hierunter fällt nicht nur die konkrete Einzelpflichtverletzung – im Beispiel das Verschweigen der Nebeneinnahmen –, sondern die gesamte unrichtig gewordene Einkommensteuererklärung mit allen ihren – vielleicht zutreffend ausgewiesenen – anderen Einkünften, sonstigen Positionen usw. Verkürzt wird durch die Nichterklärung der Nebeneinnahmen der einheitliche Einkommensteueranspruch, der nicht teilbar ist. Nur so kann verhindert werden, dass der Beschuldigte gezwungen wird, im Besteuerungsverfahren der FinB die Informationen zu liefern, die z.B. für die Schätzung durch eine Vermögenszuwachsrechnung erforderlich sind. Zum Tatbegriff einer Verfahrenseinleitung wegen Umsatzsteuerhinterziehung s. Rz. 112 ff. und § 370 Rz. 1371.
Rz. 97
Nichts anderes gilt für das Zwangsmittelverbot nach § 393 Abs. 1 Satz 2 AO. Das folgt aus dem Wortlaut des § 393 Abs. 1 Satz 3 AO ("wegen einer solchen Tat"). Die Reichweite ist daher identisch. Damit hätte S auch im Falle einer Außenprüfung ein umfassendes Aussageverweigerungsrecht im vorstehend bezeichneten Sinne. Dies gilt auch bei sog. Vorfeldermittlungen der Steufa gem. § 208 Abs. 1 Nr. 3 AO bei einem bekannten Stpfl.
Rz. 98
Für eine laufende Betriebsprüfung wird daher die Auffassung vertreten, es habe eine vollständige Unterbrechung der Prüfung zu erfolgen. Das selektive Weiterprüfen "unverdächtiger Geschäftsvorfälle" sei unzulässig, da sich die Wahrnehmung der Rechte des Beschuldigten auf die Tat im prozessualen Sinne beziehe.
Rz. 99
Der Schutz, den das Zwangsmittelverbot gewährt, erstreckt sich unabhängig davon bei Gefahr der Selbstbelastung auch auf vorausgehende oder folgende Veranlagungszeiträume und andere Steuerarten (dazu sogleich).