Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
aa) Auslegung des Merkmals "Zwangsmittel"
Rz. 64
Für die Frage, auf welche Maßnahmen sich die Zwangsmittel beziehen, gibt der Wortlaut nichts her. Verstöße gegen das Verbot des Zwangs zur strafrechtlichen Selbstbelastung können aber bereits dann vorliegen, wenn die Willensentschließung und -betätigung des Beschuldigten beeinträchtigt wird. Derartige Konfliktsituationen können im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des § 393 Abs. 1 AO unter Beachtung des von der Verfassung mit hohem Rang ausgestatteten Nemo-tenetur-Prinzips wenn nicht vermieden, so doch in rechtlicher Hinsicht zufriedenstellend gelöst werden. Entgegen der h.M., nach der nur die spezifischen Zwangsmittel des § 328 AO (s. Rz. 61) unzulässig sind, ist vor dem Hintergrund des Nemo-tenetur-Grundsatzes das Merkmal "Zwangsmittel" extensiv auszulegen.
bb) Herausgabeverlangen
Rz. 65
Unzulässig ist der Einsatz von Zwangsmitteln zur Erlangung von Beweismitteln, bei denen zweifelsfrei feststeht, dass sie sich im Besitz des Beschuldigten befinden. Dadurch würde § 95 Abs. 1 StPO unterlaufen, der ein Herausgabeverlangen gegen den Beschuldigten nicht zulässt (s. § 385 Rz. 313, 315).
cc) Betretungs- und Besichtigungsrechte
Rz. 66
Fraglich ist, wie es um die Erzwingung von Duldungspflichten steht. Zu denken ist hier an das Betreten von Grundstücken und Räumen (§§ 99, 200 Abs. 3 AO), die Nachschau (§ 210 Abs. 1 AO) und die Umsatzsteuernachschau (§ 27b UStG). Das Zwangsmittelverbot findet zutreffender Ansicht nach auch bei diesen Maßnahmen Anwendung, denn bereits die Erzwingung des Zutritts sowie die Gestattung in die Einsicht stellen eine Belastung dar. Die FinB darf deshalb die Zutrittsbefugnis zu Geschäfts- oder Wohnräumen nicht erzwingen. Bei Weigerung des Stpfl. darf sich der Prüfungsbeamte nicht gewaltsam den Zutritt verschaffen. Die bloße Weigerung begründet auch noch keine Gefahr im Verzug, die eine sofortige (strafprozessuale) Durchsuchung rechtfertigen würde (s. auch § 397 Rz. 36 ff.).
Das gilt auch in Fällen der Verdachtsnachschau (§ 210 Abs. 2 AO), bei der es sich um eine Maßnahme der Steueraufsicht handelt. Andernfalls stünden den Prüfungsbeamten weitreichendere Kompetenzen zu, als sie die Strafverfolgungsorgane hätten.
Abzulehnen ist deshalb auch die differenzierende Ansicht, die zwar die Erzwingung der aktiven Mitwirkung des Stpfl. über die Androhung eines Zwangsgeldes (§ 328 AO) für ausgeschlossen hält, nicht aber die Ausübung unmittelbaren Zwangs gem. § 331 AO.
dd) Nachteilige Schätzung
Rz. 67
Ungeachtet des erwähnten Auskunftsverweigerungsrechts (s. Rz. 46 f.) bleibt die FinB dazu berechtigt, die sich aus der verweigerten Mitwirkung ergebenden steuerrechtlichen Folgerungen zu ziehen. Dazu gehört nach st. Rspr. des BFH insbesondere die Möglichkeit, ungünstige Schätzungen der Besteuerungsgrundlagen des Stpfl. (§§ 162, 88, 90 AO) vorzunehmen, die uneingeschränkt auch bei Einleitung eines Strafverfahrens für zulässig erachtet werden. Die Praxis macht von diesem Druckmittel auch regen Gebrauch (vgl. auch Nr. 29 Satz 4 AStBV (St) 2023/2024, AStBV Rz. 29; s. dazu Rz. 144). Zur Rechtfertigung wird angeführt, dies habe sich der Stpfl. selbst zuzuschreiben. Würde er die entsprechenden Angaben machen oder Unterlagen vorlegen, würde die Veranlagung wesentlich günstiger für ihn ausfallen.
Rz. 68
Unzulässig ist es aber, eine überhöhte Zuschätzung nur deshalb vorzunehmen, weil der Stpfl. seine Mitwirkung verweigert hat. Der Stpfl. ist vielmehr so zu behandeln, als könne er unverschuldet die verlangten Angaben nicht machen. Eine Strafzuschätzung wegen der (legal) verweigerten Mitwirkung ist unzulässig. Dies gilt insbesondere bei einem einseitigen Handeln der FinB.
Rz. 68.1
Der BFH hat nur die bewusste Androhung einer Übermaßschätzung für unzulässig erklärt. § 393 Abs. 1 Satz 2 AO entlaste allein vom strafrechtlichen, nicht aber vom steuerrechtlichen Mitwirkungsdruck.
Rz. 68.2
Wird einer weit überhöhten Schätzung im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung unter Beteiligung des steuerlichen Beraters zugestimmt (in casu ein Rohgewinnaufschlagsatz von 588 %!), dürfte ein späteres Abweichen von derartigen "Konditionen" eher schwerfallen.
Rz. 69
Zur Vermeidung einer unzulässigen Zwangswirkung in derartigen Fällen gibt...