Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 67
Ungeachtet des erwähnten Auskunftsverweigerungsrechts (s. Rz. 46 f.) bleibt die FinB dazu berechtigt, die sich aus der verweigerten Mitwirkung ergebenden steuerrechtlichen Folgerungen zu ziehen. Dazu gehört nach st. Rspr. des BFH insbesondere die Möglichkeit, ungünstige Schätzungen der Besteuerungsgrundlagen des Stpfl. (§§ 162, 88, 90 AO) vorzunehmen, die uneingeschränkt auch bei Einleitung eines Strafverfahrens für zulässig erachtet werden. Die Praxis macht von diesem Druckmittel auch regen Gebrauch (vgl. auch Nr. 29 Satz 4 AStBV (St) 2023/2024, AStBV Rz. 29; s. dazu Rz. 144). Zur Rechtfertigung wird angeführt, dies habe sich der Stpfl. selbst zuzuschreiben. Würde er die entsprechenden Angaben machen oder Unterlagen vorlegen, würde die Veranlagung wesentlich günstiger für ihn ausfallen.
Rz. 68
Unzulässig ist es aber, eine überhöhte Zuschätzung nur deshalb vorzunehmen, weil der Stpfl. seine Mitwirkung verweigert hat. Der Stpfl. ist vielmehr so zu behandeln, als könne er unverschuldet die verlangten Angaben nicht machen. Eine Strafzuschätzung wegen der (legal) verweigerten Mitwirkung ist unzulässig. Dies gilt insbesondere bei einem einseitigen Handeln der FinB.
Rz. 68.1
Der BFH hat nur die bewusste Androhung einer Übermaßschätzung für unzulässig erklärt. § 393 Abs. 1 Satz 2 AO entlaste allein vom strafrechtlichen, nicht aber vom steuerrechtlichen Mitwirkungsdruck.
Rz. 68.2
Wird einer weit überhöhten Schätzung im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung unter Beteiligung des steuerlichen Beraters zugestimmt (in casu ein Rohgewinnaufschlagsatz von 588 %!), dürfte ein späteres Abweichen von derartigen "Konditionen" eher schwerfallen.
Rz. 69
Zur Vermeidung einer unzulässigen Zwangswirkung in derartigen Fällen gibt es unterschiedliche Lösungsvorschläge. So könnte man bis zum Abschluss des parallel laufenden Steuerstrafverfahrens eine Schätzung auf die in den einschlägigen Richtsatzsammlungen enthaltenen Mittelwerte beschränken. Denkbar wäre es auch, das Besteuerungsverfahren zeitlich versetzt nach dem Steuerstrafverfahren durchzuführen und zur Vermeidung steuerlicher Nachteile eine Steuerfestsetzung nach § 164 Abs. 1 AO unter dem Vorbehalt der Nachprüfung oder vorläufig nach § 165 AO vorzunehmen. Dem Selbstschutzinteresse des Stpfl. könnte auch durch eine Aussetzung der Vollziehung bzgl. der "zweifelhaften" Beträge nach § 361 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AO Rechnung getragen werden. Aber auch dadurch werden die nachteiligen Auswirkungen der verweigerten Mitwirkung weder in steuerlicher noch in strafrechtlicher Hinsicht aus der Welt geräumt. So kann die FinB durchaus im steuerlichen Rechtsmittel- oder Finanzgerichtsverfahren finanziellen Druck durch die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung nach § 361 Abs. 2 AO oder durch das Verlangen einer Sicherheitsleistung ausüben.
Bei späterer Offenlegung der steuererheblichen Unterlagen im Finanzverfahren droht dem Stpfl. im Falle eines (Teil-)Freispruchs die Wiederaufnahme des Strafverfahrens (§ 362 Nr. 4 StPO). Waren die steuerstrafrechtlichen Ermittlungen eingestellt worden, können sie nunmehr wieder aufgenommen werden. Eine Wiederaufnahme scheidet allein bei einer Einstellung nach § 153a StPO bzw. im Falle einer Verurteilung oder eines Strafbefehls aus (vgl. § 363 Abs. 1 StPO).
Selbst wenn man die Möglichkeit einer wiederauflebenden strafbefreienden Selbstanzeige nach Abschluss des Prüfungsverfahrens (§ 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO), nach Abschluss des Strafverfahrens (§ 371 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b AO) oder bei entkräftetem Tatverdacht (§ 370 Abs. 2 Nr. 2 AO) in Betracht zieht, so handelt es sich doch bei §§ 164, 165 AO um Ermessensvorschriften; zudem entfällt der Vorbehalt der Nachprüfung bei Verstreichen der Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 AO. Auch dieser Weg schließt daher nicht völlig das Dilemma aus.
Rz. 70
Auch kann das FA im Einspruchsverfahren eine Ausschlussfrist nach § 364b AO zur Einspruchsbegründung setzen. Eine Fristsetzung zur "Richtigstellung" der geschätzten Beträge käme dann aber auch einem faktischen Zwang zur Mitwirkung gleich. Selbst wenn der Einspruch durch die FinB ablehnend beschieden würde, wäre der Stpfl. bei Erhebung der Klage vor dem FG zu entsprechenden Angaben im Rahmen der Begründung der Beschwer gezwungen, sollte die Klage nicht als unzulässig verworfen werden (vgl. § 65 FGO).
Rz. 70.1
Hinsichtlich der Höhe der hinterzogenen Einkünfte hat das FG bei einer Verletzung der Mitwirkungspflicht eine eigene Schätzungsbefugnis. Eine Bindung an die strafgerichtliche Schätzung besteht nicht. Im Strafverfahren gilt hingegen auch insoweit der Grundsatz "in dubio pro reo".