Rz. 17
In der Praxis findet § 396 AO bislang kaum Anwendung, was sich auch darin widerspiegelt, dass kaum gerichtliche Entscheidungen zu § 396 AO zu finden sind. § 396 AO führt derzeit ein Schattendasein, dessen Existenzberechtigung vereinzelt mitunter gänzlich infrage gestellt wird.
Rz. 18
Der Grund für den geringen Gebrauch des § 396 AO in der Praxis bzw. für die Tatsache, dass ein Antrag auf Aussetzung des Verfahrens nach § 396 AO von den Gerichten regelmäßig abgelehnt wird, wird teilweise in der fehlenden Zurückhaltung und Bescheidenheit der Strafverfolgungsbehörden gesehen. Gemäß dem Grundsatz "ius novit curia!" vertrauen sie auf die eigene Sachkunde zur Beantwortung mitunter komplexer steuerrechtlicher Vorfragen, statt die Beurteilung steuerlicher Rechtsfragen den sachnäheren FG zu überlassen. Die Aussetzung des Verfahrens ist aus der Sicht der Strafverfolgungsbehörden mit dem Problem behaftet, dass diese regelmäßig mit einer Verfahrensverzögerung verbunden ist, was sich nach der sog. Vollstreckungslösung bzgl. der tatsächlich vollstreckten Strafe zugunsten des Beschuldigten auswirkt.
Rz. 19
Tatsächlich dürfte der entscheidende Aspekt für die stiefmütterliche Anwendung des § 396 AO in dem sich aus Art. 6 Abs. 1 MRK ergebenden Beschleunigungsgebot liegen. Das zum Fürsorgegebot zu rechnende Beschleunigungsgebot besteht als Amtspflicht gegenüber dem Beschuldigten und schließt aus, dass die Ermittlungsbehörden und Strafgerichte das Strafverfahren grundlos nicht betreiben oder ruhen lassen. So garantiert es einerseits die im öffentlichen Interesse liegende effiziente Rechtspflege, aber auch den Anspruch des Beschuldigten auf eine unverzügliche Durchführung des Verfahrens. § 396 AO normiert eine Ausnahme von dem strafprozessualen Beschleunigungsverbot. Dies dient einerseits der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsordnung, aber auch der Vermeidung möglicherweise unnötiger Belastungen, die für den Beschuldigten mit einem Strafverfahren verbunden sind.
Rz. 20
Bei der Entscheidung über die Anwendung des § 396 AO besteht damit unweigerlich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Beschleunigungsgebot auf der einen und der Vermeidung der Gefahr divergierender Entscheidungen auf der anderen Seite. Ob eine Aussetzung nach § 396 AO erfolgen soll, muss daher im Rahmen einer Ermessenserwägung unter Abwägung der widerstreitenden Interessen entschieden werden. Gegen die Aussetzung des Verfahrens wird vorgetragen, dass der Abschluss des Besteuerungsverfahrens für die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte häufig nicht absehbar ist und daher dem Gebot der zügigen Verfahrenserledigung grds. der Vorrang einzuräumen ist. So sei es keine Seltenheit, dass im Strafverfahren bereits das Revisionsgericht mit der Sache befasst ist, während im Besteuerungsverfahren noch nicht einmal eine Einspruchsentscheidung ergangen ist. Eine solch generalisierende Betrachtungsweise, zu der ganz offensichtlich auch die Strafverfolgungsbehörden neigen, wird m.E. dem Zweck des § 396 AO, aber auch dem Interesse des Beschuldigten nicht gerecht. So darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Finanzverwaltung und die FG regelmäßig über die bessere Sachkunde in steuerrechtlichen Fragen verfügen, was die höhere Gewähr für ein gerechtes Urteil bietet. Gerade im Hinblick auf die Folgen einer Verurteilung im steuerstrafrechtlichen Verfahren liegt es nicht primär im Interesse des Beschuldigten, eine schnelle Entscheidung, sondern vielmehr ein "richtiges" Urteil zu erlangen, das im Einklang mit der Rechtsordnung steht. Dies lässt Bernsmann zu der Schlussfolgerung gelangen, dass ein noch so langes Verfahren, das die Möglichkeit eines Freispruchs enthält, allemal besser sei als ein noch so kurzer Prozess mit negativem Ausgang. Zwar kann auch dieser Ansicht nicht uneingeschränkt zugestimmt werden, da sie außer Betracht lässt, dass ein langwieriges Strafverfahren für den Beschuldigten mitunter mit großen Belastungen verbunden sein kann, doch veranschaulicht sie zutreffend, dass ein zügiger Verfahrensabschluss nicht ohne weiteres den Interessen des Beschuldigten dient. Mithin verbietet sich eine reflexartige Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung des Verfahrens nach § 396 AO unter Berufung auf die damit verbundene Verfahrensverzögerung.
Rz. 21
Die vorstehenden Überlegungen belegen die Notwendigkeit des Regelungsgehalts des § 396 AO und weisen darauf hin, dass das Instrumentarium der Aussetzung des Strafverfahrens in der Praxis von den Verteidigern häufiger in Betracht gezogen werden sollte. Gerade bei günstiger Verfahrens- bzw. Überzeugungslage vor dem FG bietet sich aus taktischen Gründen ein Antrag nach § 396 AO an. Dies setzt gleichsam aber auch ein Umdenken in der Handhabe jener Vorschrift seitens der Strafverfolgungsbehörden und der Strafgerichte voraus. Ihnen obliegt es, über die entsprechenden Anträge im Rahmen einer echten Interessenabwägung ...