Rz. 22
Vor dem Hintergrund der Rspr. des EuGH in Sachen Fransson und Kretzinger wird zukünftig fraglich sein, ob und ggf. inwieweit auch eine Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO i.V.m. § 398a AO (vgl. hierzu § 398a Rz. 12, 13) als rechtskräftige Aburteilung in Betracht kommt und damit als Verfahrenshindernis bereits der Einleitung eines Strafverfahrens entgegensteht.
Rz. 22.1
Der Grundsatz des "ne bis in idem" ist allgemeiner Rechtsgrundsatz des Unionsrechts und in Art. 50 GRCh niedergelegt. Der dahinterstehende Sinn ist, dem europäischen Freizügigkeitsgrundrecht zu größtmöglicher Wirkung zu verhelfen, da niemand in seiner Freizügigkeit gehindert sein darf, wenn er befürchten müsste, innerhalb der EU wegen einer bereits abgeurteilten Tat erneut verfolgt zu werden. Unproblematisch liegt eine Aburteilung und damit ein Verfahrenshindernis vor, wenn der Beschuldigte rechtskräftig im Wege der Hauptverhandlung freigesprochen oder zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Es macht auch keinen Unterschied, ob das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzte oder die Entscheidung im Strafbefehlsweg erging. Gleichsam genügt die Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) den Anforderungen des Art. 54 SDÜ. Es kommt allein auf die Verfahrensbeendigung an.
Rz. 22.2
Art. 50 GRCh steht einer Kombination von steuerlichen und strafrechtlichen Sanktionen, etwa bei der Verhängung von Steuerzuschlägen oder Zahlungen nach § 398a AO, nicht entgegen. Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich nicht daran gehindert, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten, etwa im Bereich der Mehrwertsteuer, steuerliche und strafrechtliche Sanktionen zu kombinieren. Die Mitgliedstaaten können, bspw. um die Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, die anwendbaren Sanktionen frei wählen.
Rz. 22.3
Eine Kombination von verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen ist jedoch nur als unschädlich zu erachten, solange die verwaltungsrechtliche Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter i.S.v. Art. 50 GRCh hat. Die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Steuerzuschlägen richtet sich nach folgenden drei Kriterien: die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, die Art der Zuwiderhandlung und die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion. Dies ist zunächst durch die nationalen Gerichte zu prüfen.
Rz. 22.4
Seit der Erhöhung der Zuschläge in § 398a Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c AO auf nunmehr 20 % ab einem Hinterziehungsvolumen von 1 Mio. Euro ist fraglich, ob nicht vor dem Hintergrund der Rspr. des EuGH in Sachen Fransson der Zuschlag nunmehr endgültig Strafcharakter hat und damit faktisch ein Strafklageverbrauch ipso iure geschaffen wurde. Auf die Einordnung als freiwillige Zahlung, die Verneinung des Strafcharakters oder die in § 398a Abs. 3 AO enthaltene Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens kommt es nicht an. Dass es sich bei der Zahlungspflicht nicht um eine Kriminalstrafe handelt, ist für die Geltung der Garantie aus Art. 50 GrCh unerheblich.
Rz. 22.5
Es spricht viel für die Annahme einer Strafe, eines Strafklageverbrauchs und damit ggf. für die Annahme eines Verfahrenshindernisses, welches der Einleitung eines Strafverfahrens entgegensteht, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind und die Vorschrift des § 398a AO in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, was zunächst Voraussetzung ist. Dies könnte dann (mittelbar) der Fall sein, wenn etwa die Frage im Raum steht, ob der Zuschlag als Werbungskosten oder Betriebsausgaben steuerlich abzugsfähig ist. Auch Grundfreiheiten können mit Grundrechten kollidieren. Eine reflexive Betroffenheit des § 398a AO könnte zudem dann anzunehmen sein, wenn sich die der Selbstanzeige zugrunde liegende Tat mittelbar oder unmittelbar gegen Gemeinschaftswerte richtete, etwa in einer Umsatzsteuerhinterziehung bestand. Einen Strafklageverbrauch nur für diese Fälle anzunehmen, wäre inkonsequent und widersprüchlich, so dass man zu einem Strafklageverbrauch insgesamt käme.
Rz. 22.6
Man wird auch zukünftig die Einstellung nach § 398a AO mit erfolgter, im Fall der Wiederaufnahme nicht zu erstattender (vgl. § 398a Abs. 4 AO) Zahlung als Strafe und rechtskräftige Verurteilung i.S.v. Art. 50 GrCH ansehen müssen. Eine 20%ige Zusatzzahlung, welche ein Absehen von der (weiteren) Verfolgung einer Steuerstraftat zum Gegenstand hat, ist unschwer als staatliche Sanktion und Reaktion i.S.v. Art. 50 GRCh einzustufen. Dafür spricht zudem, dass § 398a AO nur in "besonderen Fällen" greift, bei denen grundsätzlich keine Straffreiheit in Betracht kommt.
Rz. 22.7
Im Übrigen gelten zur Frage der Aburteilung die gleichen Überlegungen, wie bei § 153a StPO ...