Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
a) Keine anderweitige Anhängigkeit oder Rechtshängigkeit
Rz. 34
Ist wegen derselben Tat i.S.d. § 264 StPO (s. dazu § 385 Rz. 1315 ff.) bereits anderweitig Anklage erhoben (§ 151 StPO) oder der Erlass eines Strafbefehls beantragt worden (§ 407 Abs. 1 StPO), ist das Strafverfahren in dieser Sache bei Gericht anhängig mit der Folge des Übergangs der Verfahrensherrschaft auf das Gericht. Solange es aufgrund der vorangegangenen Anklage noch nicht zur Eröffnung eines Hauptverfahrens oder aufgrund des vorangegangenen Antrags noch nicht zum Erlass eines Strafbefehls gekommen ist, hat die FinB in Abstimmung mit der Strafverfolgungsbehörde, die zuerst tätig geworden ist (StA oder ebenfalls FinB), zunächst eine Entscheidung darüber herbeizuführen, welches Verfahren fortgeführt werden soll. In dem anderen Verfahren ist dann die Anklage bzw. der Strafbefehlsantrag zurückzunehmen.
Ist in dem vorangegangenen Verfahren hingegen bereits das Hauptverfahren eröffnet (§ 203 StPO) oder ein Strafbefehl erlassen worden (§ 408 Abs. 3 Satz 1 StPO), ist Rechtshängigkeit eingetreten. Die bereits eingetretene Rechtshängigkeit steht einem später gestellten Strafbefehlsantrag zwingend entgegen.
Wird unter Verletzung der vorgenannten Grundsätze gleichwohl ein Strafbefehl beantragt bzw. erlassen, hat das Gericht das Verfahren ggf. auf Einspruch des Beschuldigten wegen des Prozesshindernisses einer anderweitigen Rechtshängigkeit einzustellen.
b) Keine anderweitige Sachentscheidung wegen derselben Tat
Rz. 35
Eine rechtskräftige Entscheidung (Verurteilung oder Freispruch) wegen derselben Tat im prozessualen Sinne steht nach dem Ne-bis-in-idem-Grundsatz (Art. 103 Abs. 3 GG) einer erneuten Verfolgung und Ahndung entgegen. Zum Strafklageverbrauch einer vorangegangenen rechtskräftigen gerichtlichen Sachentscheidung s. näher § 385 Rz. 47 ff., 1316 ff. Auch eine endgültige Einstellung gem. § 153a StPO bereits im Ermittlungsverfahren entfaltet beschränkte Rechtskraftwirkung bzgl. einer Verfolgung wegen eines Vergehens (s. § 385 Rz. 572).
Bei einer vorangegangenen Einstellung mangels Tatverdachts gem. § 170 Abs. 2 StPO besteht zwar jederzeit die Möglichkeit, ein Ermittlungsverfahren infolge neuer Erkenntnisse – seien es neue Beweismittel, sei es eine abweichende rechtliche Beurteilung – wieder aufzunehmen. Kommt es hingegen zu einer Verfahrenswiederaufnahme, ohne dass eine "verdichtete" Beweislage vorliegt oder eine andere, in der Sache begründete rechtliche Beurteilung vorgenommen wird, kann sich der Finanzbeamte, der dennoch einen Strafbefehl beantragt, im Einzelfall wegen Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB) strafbar machen.
c) Sonstiges
Rz. 36
Des Weiteren dürfen keine gesetzlichen und sonstigen Gründe vorliegen, nach denen ein Strafbefehlsverfahren ausgeschlossen ist.
Einen gesetzlichen Ausschlussgrund enthält z.B. § 79 Abs. 1 JGG, wonach ein Strafbefehlsverfahren gegen Jugendliche (14, aber noch nicht 18 Jahre alt, § 1 Abs. 2 JGG) oder Heranwachsende (18, aber noch nicht 21 Jahre alt, § 1 Abs. 2 JGG), auf deren Tat Jugendstrafrecht anzuwenden ist (§ 109 JGG), nicht zulässig ist. Überdies darf gegen Heranwachsende auch dann, wenn auf ihre Tat Erwachsenenstrafrecht anzuwenden ist, durch einen Strafbefehl keine Freiheitsstrafe festgesetzt werden (§ 109 Abs. 3 JGG). Gleichwohl ist aber auch ein unter Verstoß gegen § 79 Abs. 1 JGG gegen einen Jugendlichen erlassener Strafbefehl wirksam und kann sogar in Rechtskraft erwachsen (s. Rz. 190).
Wegen der besonderen Sachkunde der Jugendstaatsanwälte ist die FinB im Übrigen gehalten, einschlägige Fälle sogleich an die StA abzugeben (vgl. Nr. 22 Abs. 1 Nr. 6, Nr. 154 AStBV (St) 2020; s. AStBV Rz. 22, 154).
Rz. 37
Sprachunkundigen Ausländern ist der Strafbefehl mit einer Übersetzung in eine ihm bekannte Sprache bekannt zu geben. Das folgt sowohl aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a MRK als auch aus § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG (vgl. auch Nr. 181 RiStBV).
Ein Strafbefehl kann auch gegenüber einem Beschuldigten ergehen, der sich in Haft bzw. Untersuchungshaft befindet.
Rz. 38
Ein weiterer Ausschlussgrund kann sich aus der Abwesenheit des Beschuldigten ergeben (vgl. Nr. 175 Abs. 2 Satz 1 RiStBV). Hält sich der Beschuldigte unter einer der Ermittlungsbehörde bekannten Adresse auf, ist der Erlass eines Strafbefehls aber nur dann ausgeschlossen, wenn seine Vernehmung im Ermittlungsverfahren und die Zustellung des Strafbefehls, wenn auch nur im Wege internationaler Rechtshilfe oder an einen Zustellungsbevollmächtigten (s. dazu aber Rz. 144), nicht möglich ist. Andernfalls kann ein Strafbefehl ohne weiteres auch gegen einen Beschuldigten ergehen, der sich unter bekannter Adresse im Ausland aufhält. Bei unbekanntem Aufenthalt des Beschuldigten kommt nur eine vorläufige Einstellung des Ermittlungsverfahrens gem. § 205 StPO, nicht aber eine öffentliche Zustellung des Strafbefehls in Betracht (vgl. Nr. 175 Abs. 2 RiStBV). Zur Zustellung...