Rz. 178
Umstritten ist in dem Zusammenhang, ob isolierte (Fiskal-)Ermittlungen der Steufa nach § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auch zulässig sind, wenn wegen der Steuerstraftat bereits Verfolgungsverjährung (regelmäßig nach fünf Jahren, vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB) eingetreten ist, die steuerliche Festsetzungsfrist gem. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO (zehn Jahre) aber noch läuft. Mithin kann in diesem Fall die Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Steuerfahndung nicht (mehr) die Norm des § 208 Abs. 1 Nr. 1 AO sein, da aufgrund des bestehenden Verfahrenshindernisses (Verjährung) die Ermittlungen nicht der Erforschung von Steuerstraftaten oder Steuerordnungswidrigkeiten dienen.
Rz. 179
Nach Aufgabe der Rechtsfigur des Fortsetzungszusammenhangs bei der Steuerhinterziehung im Jahr 1994 (s. § 370 Rz. 874 f.) stellte sich in der Praxis das Problem, dass zwar strafrechtlich, nicht jedoch steuerlich Verjährung eingetreten ist und es somit zu einem zeitlichen Auseinanderfallen steuerlicher und strafrechtlicher Ermittlungen kommen kann. Nach früherer Rspr. konnten sich die Ermittlungen im Wesentlichen auf die gleichen Zeiträume erstrecken.
Beispiel 56
Die Steufa hatte gegen den Stpfl. S ein Steuerstrafverfahren eingeleitet. Das AG hatte auf Antrag des FA Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse für Steuerhinterziehungen des S in nicht rechtsverjährter Zeit, ab VZ 1989, erlassen, die sich auf Kontounterlagen, Wertpapierdepots und Bankschließfächer des Beschuldigten erstreckten. Die Bank wendete die Durchsuchung und Beschlagnahme durch freiwillige Herausgabe der Unterlagen ab.
Anschließend forderte das FA die Bank durch Bescheid mit Zwangsmittelandrohung und Rechtsbehelfsbelehrung zur Mitteilung über sämtliche Kapitalerträge und Kontostände des S der Jahre 1986–1988, für die unstreitig strafrechtliche Verfolgungsverjährung eingetreten war, auf. Die Bank hatte gegen das Auskunftsersuchen Einspruch eingelegt und Aussetzung der Vollziehung beantragt.
Rz. 180
Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen wie Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Zeugenvernehmungen verbieten sich selbstverständlich für die verjährten Veranlagungszeiträume.
In diesen Fällen können für die strafrechtlich verjährten Zeiträume Ermittlungen der Steufa oder der Zollfahndung auch nicht auf § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO gestützt werden, da es am Verdacht bzgl. einer konkreten Steuerstraftat fehlt, deren Bestrafung nicht ausgeschlossen sein darf. Dagegen sieht die h.M. in der Literatur eine eigenständige Ermittlungskompetenz der Steufa/Zollfahndung aus § 208 Abs. 1 Nr. 2 AO, unabhängig von § 208 Abs. 1 Nr. 1 AO, in diesen Fällen. Es bestehe eine Ermächtigung der Fahndungsbehörden kraft eigenen Rechts über die strafrechtliche Relevanz hinaus, den steuerlichen erheblichen Umständen einer Steuer/Zollstraftat (oder Ordnungswidrigkeit) nachzugehen.
Rz. 181
Diese steuerlichen Ermittlungen sind ebenfalls nach der gefestigter Finanzrspr. und Verwaltungspraxis (s. Nr. 122 Abs. 1 Satz 2 AStBV (St) 2022; s. AStBV Rz. 122) zulässig. Das FG Kassel hat die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen durch die Aufgabenzuweisung des § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO für gerechtfertigt erachtet, die der Steufa ein originäres Ermittlungsrecht zur Verhinderung von Steuerverkürzungen ohne Ansehen einer Strafbarkeit einräume. Gegen diese Argumentation, nach der § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO quasi als Auffangtatbestand für alle Fälle fungiert, die nicht von § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 AO erfasst sind, ist einzuwenden, dass bei einem vorliegenden Anfangsverdacht für eine Steuerhinterziehung eben nicht mehr von einem unbekannten Steuerfall i.S.d. § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO gesprochen werden kann.
Rz. 182
Nach der Grundsatzentscheidung des BFH im Jahr 1997 (s. nachst. Beispiel) ist die Steufa zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen im Zusammenhang mit der Erforschung von Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten auch dann berechtigt, wenn hinsichtlich dieser Delikte bereits Strafverfolgungsverjährung eingetreten sei, eine Steuerfestsetzung aber noch erfolgen kann. Bei der Schätzung der Bemessungsgrundlagen für die strafrechtlich verjährten Zeiträume gilt dann aber auch der Grundsatz "in dubio pro reo".
Beispiel 64
In dem Verfahren ging es um einen Anleger, der seine Kapitaleinkünfte aus den Jahren 1991–1994 unvollständig erklärt hatte. Die Ermittler vermuteten, dass womöglich auch die früheren Steuererklärungen falsch waren, und verlangten von der Hausbank des Beschuldigten Auskunft über die Depot- und Kontostände in den Jahren 1990 und 1989.
Rz. 183
Nach Ansicht des BFH hielt sich das Auskunftsersuchen im Rahmen des der Steufa von § 208 Abs. 1 AO zugewiesenen Aufgabenbereichs. Die Ermittlungskompetenz folgt aus § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO, eines Rückgriffs auf § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AO, wie es das FG Kassel angenommen habe, bedürfe es nicht. § 208 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO entfalte über den Rahme...