Dr. Brigitte Hilgers-Klautzsch
Rz. 134
Die materielle Rechtskraft einer unanfechtbaren Entscheidung besteht darin, dass über den gleichen Verfahrensgegenstand nicht noch einmal entschieden werden darf. Dieser für den allgemeinen Strafprozess verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz ne bis in idem (vgl. Art. 103 Abs. 3 GG, s. § 385 Rz. 46 f., 1315 ff.) wird in § 84 OWiG entsprechend den Besonderheiten des Bußgeldverfahrens gesetzlich ausgestaltet.
Ein formell rechtskräftiger Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde verhindert danach lediglich die nochmalige Verfolgung als Ordnungswidrigkeit, nicht jedoch als Straftat (vgl. § 84 Abs. 1 OWiG). Zur Aufhebung des Bußgeldbescheids bei einer Verurteilung wegen der Straftat s. Rz. 138. Der Grund für diese eingeschränkte Rechtskraftwirkung ergibt sich daraus, dass die StA am Bußgeldverfahren der Verwaltungsbehörde nicht beteiligt ist und diese nicht befugt ist, die Tat als Straftat zu verfolgen. Sie folgt im Übrigen aus der summarischen Erledigung des Verfahrens.
Zu beachten ist, dass der Begriff "Tat" hier im verfahrensrechtlichen Sinne als ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang und nicht etwa im materiell-rechtlichen Sinne als Tateinheit (§ 19 OWiG) zu verstehen ist.
Rz. 134.1
Umstritten ist, ob dieser Grundsatz der eingeschränkten Rechtskraft auch für den rechtskräftigen Bußgeldbescheid der FinB gilt, denn diese ist – im Unterschied zur Verwaltungsbehörde nach dem OWiG – auch für die Verfolgung als Steuerstraftat zuständig. Nach einer Ansicht kann die Wirkung der Rechtskraft nur so weit reichen wie die Befugnis zur Ahndung. Der FinB stehe aber, und darauf komme es für die Rechtskraftwirkung an, keine Entscheidungsbefugnis in Strafsachen zu. Diese Auffassung lässt aber unberücksichtigt, dass die FinB eigenständige staatsanwaltschaftliche Befugnisse hat, sie die Tat unter strafrechtlichen und bußgeldrechtlichen Gesichtspunkten umfassend würdigen und sie auch Antrag auf Strafbefehl stellen kann, der gewöhnlich antragsgemäß vom Amtsrichter erlassen wird. Die Gründe für die Regelung des § 84 Abs. 1 OWiG treffen daher für das Steuerstraf- und -bußgeldverfahren nicht zu. Der finanzbehördliche Bußgeldbescheid steht daher einer erneuten Verfolgung und Aburteilung der Tat als Steuerstraftat entgegen.
Beispiel
Wegen unrichtiger und unvollständiger Buchung von Geschäftsvorfällen in den Jahren 2016–2018 ist gegen den Großhändler N ein Bußgeldbescheid wegen Steuergefährdung gem. § 379 Abs. 1 Nr. 2 AO über 500 EUR ergangen. N hat diesen Bescheid rechtskräftig werden lassen.
Ein Jahr später hält die FinB aufgrund neuer Tatsachen und Beweismittel sogar den Tatbestand der Steuerhinterziehung für gegeben und beantragt beim AG einen entsprechenden Strafbefehl. Nach zutr. Ansicht (s. oben) steht dem Erlass des Strafbefehls die Rechtskraft des Bußgeldbescheids entgegen.
Zu einem späteren Strafverfahren wegen eines Allgemeindelikts s. Rz. 138.
Rz. 134.2
Bei einer Dauerordnungswidrigkeit (s. Rz. 9.1; § 378 Rz. 156 f.) erstreckt sich die Rechtskraft nur auf den Handlungszeitraum bis zum rechtskräftigen Bußgeldbescheid oder dem tatrichterlichen Urteil. Bei einer Aufsichtspflichtverletzung gem. § 130 OWiG (s. § 377 Rz. 171 ff.), die eine Dauerordnungswidrigkeit darstellt, werden von der Rechtskraft des Bußgeldbescheids sämtliche durch die Aufsichtspflichtverletzung ursächlich bedingten Zuwiderhandlungen erfasst.