Leitsatz
Die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, ist eine Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO). Dies gilt im Fall der Einnahmenüberschussrechnung nicht nur für Aufzeichnungen über den Wareneingang gemäß § 143 AO, sondern ebenso für sonstige Aufzeichnungen und die übrige Belegsammlung.
Normenkette
§§ 143, 158, 162 Abs. 1 und 2, § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, § 4 Abs. 3 EStG
Sachverhalt
Der Kläger wurde in den Streitjahren 2013 und 2014 als Einzelunternehmer im Bereich Einzelhandel und Dienstleistungen tätig und ermittelte seinen Gewinn durch Einnahmenüberschussrechnung. Er wurde zunächst erklärungsgemäß ohne Vorbehalt der Nachprüfung veranlagt. Bei einer nachfolgenden Außenprüfung stellte der Prüfer fest, dass die Aufzeichnungspflichten nach § 22 UStG nicht hinreichend erfüllt worden seien, das freiwillig geführte Kassenbuch den gesetzlichen Anforderungen nicht entspreche und die Korrekturen auf den Z-Bons mangels Eigenbelegen nicht nachvollziehbar seien. Das FA änderte die ESt-Bescheide auf der Grundlage von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Das FG (Niedersächsisches FG, Urteil vom 21.8.2020, 3 K 208/18, Haufe-Index 15223659) gab der Klage insoweit statt.
Entscheidung
Der BFH hielt die Revision des FA für begründet und verwies die Sache an das FG zurück. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Änderung bestandskräftiger (Einkommen-)Steuerbescheide im Nachgang zu einer Außenprüfung nur dann zulasse, wenn sicher feststehe, dass der Steuerpflichtige Betriebseinnahmen nicht aufgezeichnet habe. Insbesondere aufgrund der vom FG für die USt 2013 und 2014 angenommenen Hinzuschätzungsbefugnis sei nicht auszuschließen, dass auch für die ESt der Streitjahre (formelle) Mängel der Aufzeichnungen feststellgestellt werden können, die den Angaben des Klägers zu seinen Betriebseinnahmen die Gewähr für die Vollständigkeit und Richtigkeit nehmen und das FA zur Hinzuschätzung berechtigt hätten. Weitere Feststellungen dazu müsse das FG im 2. Rechtsgang treffen.
Hinweis
1. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Tatsache ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen in diesem Sinne sind Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen. Schätzungsgrundlagen können Tatsachen sein. Die Schätzung selbst ist dagegen keine Tatsache, sondern eine Schlussfolgerung.
2. Die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, ist eine Tatsache. Hierzu gehören insbesondere Aufzeichnungen über den Wareneingang gemäß § 143 AO und die Belegsammlung. Auch die Art und Weise der Aufzeichnung der Bareinnahmen, der Inhalt dieser Aufzeichnungen und das Vorhandensein der Z-Bons sind Tatsachen.
3. Weitere Voraussetzung der Änderungsnorm des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist, dass die Tatsache nachträglich bekannt wurde. D. h. sie muss schon bei Erlass des ursprünglichen Bescheids vorhanden, aber zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt gewesen sein. Erst nachträglich entstandene Tatsachen fallen nicht unter § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Sie können allenfalls rückwirkende Ereignisse i.S.d. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO darstellen.
4. Des Weiteren setzt § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO voraus, dass die nachträglich bekannt gewordene Tatsache rechtserheblich war. Die Rechtserheblichkeit ist zu verneinen, wenn das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre.
5. Sowohl bei Verletzung der Aufbewahrungspflicht als auch bei Verletzung der Aufzeichnungspflicht ist das FA dem Grunde nach zur Schätzung gemäß § 162 Abs. 1 und 2 AOberechtigt. Nach § 162 Abs. 2 Satz 1 und 2 AO ist insbesondere dann zu schätzen, wenn der Steuerpflichtige über seine Angaben keine ausreichenden Aufklärungen zu geben vermag bzw. wenn die Buchführung oder die Aufzeichnungen der Besteuerung nicht nach § 158 Abs. 2 AO zugrunde gelegt werden. Nach § 158 Abs. 2 Nr. 1 AO sind die Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen, die den Vorschriften der §§ 140 bis 148 AO entsprechen, der Besteuerung zugrunde zu legen, soweit nach den Umständen des Einzelfalls kein Anlass besteht, ihre sachliche Richtigkeit zu beanstanden. Diese Vorschrift gilt auch für Aufzeichnungen, die nach Einzelsteuergesetzen (z.B. § 22 UStG) zu erstellen sind, sowie für Aufzeichnungen im Zusammenhang mit einer Einnahmenüberschussrechnung.
6. Zur (Hinzu-)Schätzung berechtigen auch formelle Mängel der Aufzeichnungen über Bareinnahmen, die zwar keinen sicheren Schluss auf eine Einnahmenverkürzung zulassen, aber dazu führen, dass keine Gewähr mehr für die Vollständigkeit der Erfassung der Bareinnahmen besteht, ohne dass eine nachträgliche Ergänzu...