Leitsatz
1. Um eine Entschädigungsklage erfolgreich erheben zu können, bedarf es keiner erfolglosen vorgerichtlichen Zahlungsaufforderung. Entscheidet sich ein Entschädigungskläger aber unmittelbar zur Klageerhebung, trägt er das Risiko, die Kosten des Entschädigungsverfahrens gemäß § 93 ZPO tragen zu müssen, wenn der Beklagte den Anspruch sofort anerkennt.
2. Es ist kein Zeichen eines unzulässigen "Duldens und Liquidierens", wenn der Kläger auf die Ankündigung des Gerichts, das Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt voraussichtlich abzuschließen, vertraut und ihm damit die Möglichkeit gibt, das Verfahren den eigenen Planungen entsprechend zu betreiben. In einem solchen Fall kann eine Verzögerungsrüge länger als nur den Regelzeitraum von sechs Monaten zurückwirken.
Normenkette
§ 198 Abs. 1, Abs. 3 GVG, § 135 Abs. 1, § 138 Abs. 1, § 155 FGO, § 93 ZPO
Sachverhalt
Eine GmbH sah die Dauer ihres seit dem 10.7.2012 vor dem FG Köln anhängigen Verfahrens 13 K 2139/12, das durch Abgabe wechselseitiger Erledigungserklärungen am 7.4.2016 beendet wurde, als verzögert an. Sie hatte am 11.1.2013, am 30.8.2012 sowie am 14.7.2015 die Verzögerung gerügt. Die Klägerin begehrte eine Entschädigung i.H.v. 1.600 EUR. Der Beklagte erkannte den Anspruch nur i.H.v. 1.000 EUR sofort an. Die dritte und einzig wirksam erhobene Verzögerungsrüge wirke im Regelfall lediglich 6 Monate zurück, sodass der Entschädigungsanspruch nur i.H.v. 1.000 EUR begründet sei. Der Klägerin seien die Kosten für den gesamten Rechtsstreit aufzuerlegen.
Entscheidung
Der BFH verurteilte den Beklagten zur Zahlung weiterer 600 EUR, da aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls die dritte Verzögerungsrüge nicht als verspätet anzusehen sei. Ebenfalls aufgrund der Spezifika des Einzelfalls hatte der Beklagte trotz des – auch in Entschädigungsverfahren wegen überlanger Verfahrensdauer anzuwendenden – Grundgedankens des § 93 ZPO die gesamten Kosten des Verfahrens zu tragen.
Hinweis
In diesem Entschädigungsverfahren wegen überlanger Verfahrensdauer, sind drei Aspekte von allgemeiner Bedeutung.
1. Für die materielle Entschädigung (im Regelfall 100 EUR pro Monat der Verzögerung) ist es unerheblich, ob der betroffene Verfahrensbeteiligte eine natürliche oder eine juristische Person ist. Allein die Eigenschaft als juristische Person entkräftet nicht die Vermutungswirkung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG.
2. Die Entschädigung in Geld setzt nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG voraus, dass der Verfahrensbeteiligte die Dauer des Verfahrens gerügt hat.
Die zu früh erhobene Verzögerungsrüge, d.h. eine Rüge zu einem Zeitpunkt, in dem noch kein Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird, geht "ins Leere" und wird auch dann nicht wirksam, wenn später tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer eintritt.
Eine zu spät erhobene Verzögerungsrüge kann dazu führen, dass insoweit eine Geldentschädigung nicht gewährt wird. Der BFH hat nämlich eine unbeschränkte Rückwirkung von Verzögerungsrügen verneint, da diese dem präventiven Aspekt des Gesetzeszwecks nicht entspreche, sondern diesen leerlaufen lasse.
Um die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der Rechtsprechung im Bereich der Entschädigungsklagen zu verbessern, erschien es dem BFH notwendig, den in der Rechtspraxis nur schwer fassbaren Zeitraum eines unzulässigen "Duldens und Liquidierens" durch eine Vermutungsregel zu typisieren. Er hat für den Regelfall einen Zeitraum von gut sechs Monaten, für den eine Verzögerungsrüge zurückwirkt, als angemessen und zumutbar angesehen. Ein solcher Regelfall liegt aber nicht vor, wenn der Verfahrensbeteiligte auf die angekündigte Verfahrenserledigung des Gerichts vertraut und diesem die Möglichkeit gibt, den eigenen Planungen entsprechend das Verfahren zu betreiben.
3. Wird eine Entschädigungsklage in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt, ist nach billigem Ermessen über die Kosten des Verfahrens unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Dabei ist auch der Gedanke des § 93 ZPO heranzuziehen, wonach dem Kläger die Prozesskosten zur Last fallen, wenn der Beklagte den Anspruch sofort anerkennt und der Beklagte nicht durch sein Verhalten zur Erhebung der Klage Veranlassung gegeben hat.
Zwar bedarf es keiner erfolglosen vorgerichtlichen Zahlungsaufforderung, um eine Entschädigungsklage erfolgreich erheben zu können. Entscheidet sich ein Entschädigungskläger aber unmittelbar zur Klageerhebung, trägt er das Risiko, die Kosten des Entschädigungsverfahrens gemäß § 93 ZPO tragen zu müssen, wenn der Beklagte sofort anerkennt.
Vorgerichtliche Zahlungsgeltendmachung angezeigt
Bevor eine Entschädigungsklage wegen überlanger Verfahrensdauer vor dem BFH erhoben wird, sollte der Entschädigungskläger den Beklagten vorgerichtlich zur Zahlung einer – nach den Grundsätzen der BFH-Rechtsprechung berechneten – Entschädigung auffordern, um auf diese Weise das Prozesskostenrisiko zu minimieren.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom...