Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung durch insolventes Luftfahrtunternehmen. Örtliche Zuständigkeit der Agentur für Arbeit für Massenentlassungsanzeige bei aufgelöster Betriebsstruktur. § 17 Abs. 3 S. 1 KSchG kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB. Angabe von Zeiträumen geplanter Kündigungen in Massenentlassungsanzeige. Rügepflicht von Verstößen gegen § 17 Abs. 3 KSchG
Leitsatz (amtlich)
(1) Zuständige Behörde für die Massenentlassungsanzeige ist bei einer aufgelösten betrieblichen Struktur diejenige Agentur für Arbeit, in deren Zuständigkeitsbereich der letzte nach der Massenentlassungsrichtlinie feststellbare Betrieb lag und nicht diejenige Agentur für Arbeit am gesellschaftsrechtlichen Sitz des Unternehmens. Dies gilt auch für eine erneute Kündigung, nachdem die ursprüngliche Kündigung wegen Betriebsstilllegung aufgrund von Fehlern bei der Massenentlassungsanzeige rechtsunwirksam war.
(2) Zu den Anforderungen an die Angabe des Zeitraums, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, im Rahmen des Konsultationsverfahrens gemäß § 17 Abs. 2 KSchG.
(3) § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG ist kein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB.
Normenkette
KSchG § 17; BGB § 134; BetrVG § 102 Abs. 1; KSchG § 1; ZPO § 97 Abs. 1, § 130a
Verfahrensgang
ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 22.02.2021; Aktenzeichen 6 Ca 5392/20) |
Tenor
- Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 22.02.2021, Az.: 6 Ca 5392/20 wird zurückgewiesen.
- Der Kläger hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
- Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die betriebsbedingte Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses.
Der Beklagte ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der Air M. PLC & Co. Luftverkehrs KG (im Folgenden Schuldnerin). Die Klägerin, geboren am 05.09.1962, ist seit 1981 als Flugbegleiterin mit einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt EUR 4.449,67 für die Schuldnerin bzw. deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Für die Klägerin gilt der Manteltarifvertrag Nr. 4 Kabinenpersonal N. (iF.: MTV Nr. 4 Kabinenpersonal N.), der in § 50 Abs. 3 nach Vollendung des 50. Lebensjahres und mindestens 15 Jahren Beschäftigungszeit nur noch eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zulässt.
Bei der Schuldnerin handelte es sich um eine Fluggesellschaft mit Sitz in M., die Stationen an verschiedenen Flughäfen hatte. Die Schuldnerin beschäftigte mit Stand August 2017 mehr als 6.000 Arbeitnehmer, davon 1.318 Cockpitmitarbeiter, 3.362 Beschäftigte in der Kabine und 1.441 Mitarbeiter am Boden. Sie bediente im Linienflugverkehr Ziele in Europa, Nordafrika, Israel sowie in Nord- und Mittelamerika und unterhielt Stationen an den Flughäfen M.-U., E., N., G., T., I., L., Q., O. und M.. Die Langstreckenflüge wurden in erster Linie von den Drehkreuzen in M.-U. und E. aus durchgeführt.
Das fliegende Personal trat am sog. Stationierungsort (home base bzw. Heimatbasis) seinen Dienst an und beendete ihn dort. Soweit Personal auf Flügen von anderen Flughäfen als dem vereinbarten Dienstort eingesetzt wurde, erfolgte dies in Form des sog. proceeding. Das Personal fand sich dabei zunächst am Dienstort ein und wurde von dort zum Einsatzflughafen gebracht. Der Dienstort der Klägerin war zuletzt E..
In M. war der Leiter des Flugbetriebs ("Head of Flight Operations") ansässig. Diesem oblag die gesamte Leitung des Flugbetriebs im operativen Geschäft. Ihm unterstellt waren ua. die Abteilungen Cabin Crew sowie Crew Operations. Die Einsatzplanung für das Kabinenpersonal wurde seit Mitte 2017 in M. für den gesamten Flugbetrieb erstellt (Crew Planning). Dies umfasste die Urlaubsplanung und die Planung der Kabinencrew-Verkehre zwischen den einzelnen Stationen.
Der Leitung der Abteilung Cabin Crew oblag die Durchsetzung, Kontrolle und Einhaltung aller Betriebsregeln im Bereich Kabine sowie die Personalplanung des gesamten Kabinenpersonals einschließlich der Begründung, Beendigung oder Änderung von Arbeitsverhältnissen. Ausweislich des sog. "Operations Manual Part A" (OM/A, Stand 20.07.2017), welches die Organisationsstruktur des Flugbetriebs abbildete, waren der Leitung des Kabinenpersonals ("PX-OK Cabin Crew") ua. zwei Regional Manager unterstellt.
Die Regional Manager waren als Flugbegleiter angestellt und in der Regel auch im operativen Flugbetrieb eingesetzt. Sie hatten keine eigenen Entscheidungskompetenzen. Das OM/A beschreibt die Aufgaben des ua. für die Station E. zuständigen Regional Manager West wie folgt:
"Der Regional Manager West ist für die Stationen E. und Q. verantwortlich in disziplinarischen Fragen und Personalangelegenheit, einschließlich persönlicher Angelegenheiten.
Er/sie nimmt an den Flugbetriebssitzungen teil und führt in Absprache mit der Leitung Kabinenpersonal Projekte durch. Er/sie ist täglich mit den Gewerkschaften und Betriebsräten in Kontakt.
Aufgaben und Verantwortungsbereiche
- Aufsicht über alle Aktivitäten im Bereich der Passagierbetreuung zur Erzielung eines optimalen professionellen, sich...