Rn. 54
Stand: EL 153 – ET: 10/2021
Die Bedeutung des § 12 Nr 1 EStG geht über die eines punktuellen Abzugsverbots weit hinaus. § 12 Nr 1 EStG wirkt systembildend, weil die Vorschrift zur Verwirklichung der Grundentscheidung des deutschen ESt-Rechts beiträgt, dass Einnahmen erst nach Abzug der Erwerbsaufwendungen besteuert werden. Dieses sog objektive Nettoprinzip (vgl BFH VIII R 15/17, DStR 2020, 2413; BFH VI R 8/12, BFH/NV 2014, 1970; BFH GrS 1/06, BStBl II 2010, 672; BVerfG 2 BvL 10/95, BStBl II 1999, 502) bedeutet
- positiv, dass als Bemessungsgrundlage für die ESt nicht die Roheinnahmen, sondern die Einkünfte nach Abzug der mit der Einkünfteerzielung im Zusammenhang stehenden Aufwendungen zugrunde gelegt werden,
- negativ, dass Aufwendungen, die mit der Einkünfteerzielung in keinem ausreichenden Zusammenhang stehen, nicht zum Abzug zugelassen werden.
Der Durchsetzung dieser Systementscheidung dient § 12 Nr 1 EStG, weil die Vorschrift den Bereich beschreibt, der der einkommensteuerlich irrelevanten Privatsphäre zuzuordnen ist. Damit ist § 12 Nr 1 EStG eine der Zentralnormen des deutschen ESt-Rechts.
Rn. 55
Stand: EL 153 – ET: 10/2021
Das objektive Nettoprinzip ist bereits durch die Vorschriften zur Einkünfteermittlung (§§ 2 Abs 2, 4 Abs 1 S 1, 8 Abs 1, 9 Abs 1 S 1 EStG), insb durch die Vorschriften über die Berücksichtigung von BA (§ 4 Abs 4 EStG) und WK (§ 9 EStG), konstitutiv im ESt-Recht verankert. Die ESt hätte deshalb auch ohne § 12 Nr 1 EStG den Charakter einer Nettobesteuerung. Deshalb hat § 12 Nr 1 EStG im Wesentlichen klarstellende Bedeutung. Das objektive Nettoprinzip wird aber dadurch näher konkretisiert, dass § 12 Nr 1 EStG die Aufwendungen benennt, die nicht abgezogen werden dürfen, weil sie in keinem hinreichenden Zusammenhang mit der Einkünfteerzielung stehen. Während § 4 Abs 4 EStG und § 9 EStG den Abzug erwerbsbedingten Aufwands ermöglichen, verbietet § 12 Nr 1 EStG den Abzug von nicht erwerbsbedingtem Aufwand. § 12 Nr 1 EStG sichert das objektive Nettoprinzip quasi "nach unten hin" ab.
§ 12 Nr 1 EStG darf allerdings nicht dahingehend verstanden werden, dass alles, was nicht unter § 12 Nr 1 EStG fällt, abzugsfähig ist. Ein – ggf teilweises – Abzugsverbot kann sich auch aus anderen Vorschriften wie zB § 4 Abs 5 EStG, § 9 Abs 1 S 3 Nr 4, 4a, 5, § 9 Abs 4a, § 9 Abs 5 EStG ergeben.
Rn. 56
Stand: EL 153 – ET: 10/2021
Es würde der Vorschrift des § 12 Nr 1 EStG nicht gerecht werden, wenn ihr keinerlei konstitutive Bedeutung zugemessen werden würde. Die allg anerkannte Zuordnung erwerbsbedingter Aufwendungen zur Erwerbssphäre anhand eines spezifisch steuerrechtlichen Veranlassungszusammenhangs beruht auch auf der normativen Wirkung des § 12 Nr 1 EStG. Dies liegt an dem Umstand, dass ohne § 12 Nr 1 EStG alle Aufwendungen als Erwerbsaufwendungen angesehen werden könnten, die in einem schlichten Kausalzusammenhang mit der Erwerbstätigkeit stehen. Zumindest der Wortlaut des § 4 Abs 4 EStG ließe eine solche Auslegung zu.
Würde eine bloße Kausalbeziehung zwischen dem getätigten Aufwand und der Einkünfteerzielung ausreichen, könnten auch Aufwendungen für Wohnung, Kleidung und Ernährung als Erwerbsaufwendungen abgezogen werden, weil die Einkünfteerzielung ohne derartige Aufwendungen nicht denkbar wäre (conditio sine qua non). Die normative Bedeutung des § 12 Nr 1 EStG besteht deshalb darin, dass die Reichweite der Abzugsfähigkeit von Erwerbsaufwendungen bzw die Art des erforderlichen Zusammenhangs zwischen getätigtem Aufwand und der Einkünfteerzielung näher bestimmt und eingegrenzt wird. § 12 Nr 1 EStG verdeutlicht durch Umschreibung des nicht abzugsfähigen Bereichs, dass für den erforderlichen Zusammenhang zwischen der getätigten Aufwendung und der Einkünfteerzielung bloße Kausalitätsüberlegungen nicht ausreichend sind, sondern dass die Art des Zusammenhangs nach Adäquanzgesichtspunkten verengt werden muss. § 12 Nr 1 EStG konkretisiert damit die Grenzlinien des objektiven Nettoprinzips und stellt eine wichtige Interpretationshilfe für die Abgrenzung der Einkünfteerzielungssphäre und der steuerrechtlich unbedeutenden Privatsphäre dar.
Rn. 57
Stand: EL 153 – ET: 10/2021
In der Vergangenheit hatte § 12 Nr 1 S 2 EStG eine noch darüber hinausgehende Bedeutung. Nach früherer Ansicht der Rspr und der FinVerw ergab sich aus dieser Vorschrift ein generelles Aufteilungs- und Abzugsverbot für sog gemischte Aufwendungen (grundlegend: BFH GrS 2/70, BStBl II 1971, 17; BFH GrS 3/70, BStBl II 1971, 21). § 12 Nr 1 S 2 EStG war damit jahrzehntelang für die Behandlung von Aufwendungen, die sowohl aus erwerbsbezogenen Gründen als auch aus privaten Gründen getätigt wurden, prägend. Solche Aufwendungen wurden grds als insgesamt nicht abzugsfähig behandelt.
Nach Aufgabe dieser Rspr und grundsätzlicher Ermöglichung der Aufteilung von gemischten Aufwendungen durch den GrS des BFH (Beschluss des BFH v 21.09.2009, GrS 1/06, BFH BStBl II 2010, 672) wirkt die Vorschrift auch heute noch konkretisierend auf die Umsetzung des objektiven Nettoprinzi...