Rn. 239
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die gesetzliche Neuregelung in § 18 Abs 1 Nr 1 S 3 EStG 1960 durch das StÄndG 1960 (BGBl I 1960, 616) hat die Vervielfältigungstheorie im Kern zwar nicht aufgegeben, aber durch eine nachgiebige Abgrenzung (BFH BStBl II 1988, 782) auf ein Maß zurückgeführt, das weitgehend den Wünschen der Vertreter der freien Berufe entsprach. Sie sieht nunmehr vor, dass ein Freiberufler auch dann freiberuflich tätig ist, wenn er sich der Mithilfe fachlich vorgebildeter Arbeitskräfte bedient, vorausgesetzt er wird aufgrund eigener Fachkenntnisse leitend und eigenverantwortlich tätig.
Man nannte das: dem Wesen der freien Berufe entsprechend (vgl RegE BT-Drucks III/1811, 11, 12; Bericht des FinAussch des BT BT-Drucks III/1941, 4), ein Verbalismus, der methodisch ein Zirkelschluss ist und kein Sachargument für die Abkehr von der Vervielfältigungstheorie darstellt. Allerdings soll die Beschäftigung qualifizierter Mitarbeiter zahlenmäßig auf ein Maß beschränkt sein, das dem Berufsträger noch eine leitende und eigenverantwortliche Tätigkeit offenlässt.
Der die Neuregelung auslösende Prüfungsauftrag des Deutschen BT v 20.08.1958 (vgl BT-Drucks III/1811, 11 und 12; Bericht des FinAussch BT-Drucks III/1941, 4) hatte zum Ziel, das bis dahin geltende Vervielfältigungs- durch ein anderes Abgrenzungsverfahren zu ersetzen (BFH BStBl II 1988, 782). Die selbstständige Berufstätigkeit der Katalogberufler wird indessen unverändert weiterhin durch die Art und Weise der von ihnen ausgeübten Tätigkeit gekennzeichnet (vgl § 15 Abs 2 EStG: "als Ausübung …"; § 18 Abs 1 Nr 1 S 2EStG: "Berufstätigkeit der …"; BFH BStBl II 1976, 155; 1995, 732). Wesentliches Merkmal der freiberuflichen Tätigkeit zur Abgrenzung gegenüber der gewerblichen Tätigkeit sei die unmittelbare, persönliche und individuelle Arbeitsleistung des Freiberuflers (BFH BStBl III 1963, 595; 1965, 557; BStBl II 1969, 165; 1988, 17; 1988, 782; 1989, 727; 1990, 507; 1995, 732).
Wenn diese Wesensbestimmung (hierzu s oben) richtig ist, dann ist aber auch richtig, dass der Gesetzgeber mit der Neufassung trotz Einfügung des Merkmals der Eigenverantwortlichkeit diesen historisch gewachsenen Begriff des freien Berufs wesensverändert hat: Gehörte es früher etwa zum "Wesen" des Freiberuflers, dass er seinen Klienten selbst betreut, so darf es seit 1960 genügen, dass er seinen qualifizierten Kollegen damit betraut.
Insb wenn zB die Auffassung vertreten wird, ein StB mit 50 qualifizierten Fachkräften sei noch eigenverantwortlich tätig, wird deutlich, dass die höchstpersönliche Leistung für den Klienten (Kunden) kein "Wesens"-element des Freiberufs mehr sein soll und ist – ganz davon abgesehen, dass die Rechtspraxis notgedrungen an der Aufgabe scheitern muss, Kriterien für eine nachvollziehbare Subsumtion zu finden. Die neuere Rsp des BFH hat das "Wesensmerkmal" der Unmittelbarkeit so weit ausgedünnt, dass es weitgehend von der geschickten Darstellung vor dem FA/FG abhängt, ob sich ein "eigenpersönlicher Stempel" (s Rn 247) zeigt (hierzu auch Kanzler, FR 2015, 619).
Rn. 239a
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die Vervielfältigungstheorie war nach bisher hM aber weiterhin für die Einkünfte aus sonstiger selbstständiger Arbeit iSv § 18 Abs 1 Nr 3 EStG bedeutsam, weil diese Tätigkeiten "ihrer Natur nach einer kaufmännischen Beschäftigung näherstehen". Das bedeutete die Gefahr der Gewerblichkeit bereits bei Beschäftigung nur eines qualifizierten Mitarbeiters (vgl BFH BStBl II 1994, 936 mit umfassenden Nachweisen; ferner s Rn 292). Seit BFH BStBl II 2011, 506 gilt das jedoch nicht mehr (s Rn 329).