Rn. 250
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Die Rspr des BFH ist seit Anbeginn (seit BFH BStBl II 1968, 820) als zu eng, nicht sachgerecht und fortschrittsfeindlich kritisiert worden (vgl Abele, DStR 1966, 754; Labus, BB 1968, 1368; Withol, Anm StRK EStG bis 74 § 15 Ziff 1 R 22; Greif/Leipoldt, INF 1978, 58; Korn, StbKongrRep 1995, 143, 145f; Krüger, FR 1996, 613, 616; Lüdemann/Wildfeuer, BB 2000, 589; Römermann, BB 2000, 2394). Dem BFH wird vorgeworfen, er verkenne bei der Beurteilung der Eigenverantwortlichkeit die heutigen Berufsbilder. Er sei mit seiner Forderung, die Tätigkeit der Mitarbeiter müsste den Stempel der Eigenpersönlichkeit des Berufsträgers aufweisen, wieder in die überholte Vervielfältigungstheorie zurückgefallen.
Indessen wird diese Kritik weder dem besonderen Besteuerungstatbestand in § 18 Abs 1 Nr 3 EStG noch den in § 18 Abs 1 Nr 1 S 3 u 4 EStG vom Gesetzgeber geschaffenen Abgrenzungskriterien gerecht. Der BFH nimmt gerade keine schematische Abgrenzung wie nach der abgelösten Vervielfältigungstheorie, die allein auf die Zahl der qualifizierten Mitarbeiter abstellte, vor, sondern ermöglicht eine auf den Einzelfall bezogene Würdigung, die mE idR sogar großzügig ausfällt. Die Zahl der Aufträge und der Mitarbeiter bilden lediglich Beweisanzeichen, die in die Gesamtwürdigung eingehen, ob noch eine den freien Beruf charakterisierende persönliche Leistung vorliegt (so zutreffend Kempermann, FR 1996, 514, 515). Das Gesetz will nach Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte selbstständige persönliche Arbeit begünstigen (vgl BFH BStBl II 1976, 155; 1988, 17; 1990, 507). Die sog Stempeltheorie hält also Spielräume für eine großzügige Beurteilung offen, trägt aber gleichzeitig dem Umstand Rechnung, dass der Umfang einer freiberuflichen Praxis nicht beliebig vergrößert werden kann (vgl Schick, Die freien Berufe im Steuerrecht, 1973, 81; BFH BStBl II 1990, 507; zur Verfassungsmäßigkeit BVerfG HFR 1990, 385 zu BFH BFH/NV 1988, 55). Der Freiberufler muss einen ins Gewicht fallenden Einfluss auf die Tätigkeit seiner Mitarbeiter derart ausüben, dass die Kundschaft die von ihm erwartete persönliche Leistung als solche erkennen kann. Insofern findet die Rspr zu Recht im Schrifttum durchaus auch Zustimmung (vgl Stuhrmann in K/S/M, § 18 EStG Rz B 188; Brandt in H/H/R, § 18 EStG Rz 236 (Februar 2020); Stöcker in Lademann, § 18 EStG Rz 45, der allein eine Abhilfe durch den Gesetzgeber für wirksam hält).
Die gesetzlichen Merkmale der Leitung und eigenverantwortlichen Tätigkeit sollten in des Wortes wahrer Bedeutung angewendet und nicht verwässert werden. Die freien Berufe haben für die Beschäftigung von vorgebildeten Hilfskräften ihre Grenzen, bei deren Überschreiten ein anderer Typus der selbstständigen Tätigkeit, nämlich des Gewerbebetriebs, aufscheint. Wer insofern schlagwortartig mit "Fortschritt" argumentiert, stellt mE die Legitimation der GewSt-Privilegierung der Freiberufler (s Rn 238) infrage.
Rn. 250a
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Der Freiberufler, der unter hohem Personal- und BV-Einsatz tätig wird, gibt gleich dem Gewerbetreibenden dem Gewinnstreben Vorrang vor der persönlichen Arbeitsleistung an bzw für den Kunden. Will oder kann er insofern nicht durch organisatorische Maßnahmen Vorkehrungen treffen (vgl Korn, DStR 1995, 1249, 1252; Korn, StbKongrRep 1995, 143, 151f), muss er die Konsequenzen, gleich einem Gewerbetreibenden in Kauf nehmen. Im Übrigen kann er eine Sozietät oder seit dem 01.07.1995 eine Partnerschaftsgesellschaft gründen. Die Aufgabenverteilung kann dabei auch nach der Rspr flexibel gestaltet werden (vgl Anm in HFR 1990, 426; Kupfer, KÖSDI 1990, 8066, 8067; Korn, DStR 1995, 1249, 1252; Scharl, StB 1989, 397, 402), und der jeweilige Gesellschafter muss sich ausschließlich um den ihm zugewiesenen Aufgabenbereich leitend und eigenverantwortlich kümmern (vgl dazu BFH BStBl II 1989, 727). Ferner kommt für bestimmte Tätigkeitsbereiche die Gründung einer Freiberufler-GmbH in Betracht (Schaper/Neufang, INF 1992, 154, 158; Kupfer, KÖSDI 1990, 8066, 8068).
Rn. 250b
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Eiine andere Frage ist, ob bei teilweise nicht eigenverantwortlicher Tätigkeit eine Geringfügigkeitsgrenze anzusetzen sei (so Kanzler, FR 2017, 781), was mE überflüssig scheint. Denn wenn in der Rechtspraxis der BFH oder ein FG das Erfordernis der Eigenverantwortlichkeit als nicht erfüllt beurteilt haben, hat das nicht an geringfügigen Abweichungen von der Norm gelegen. Fehlende Mitarbeit in Ausnahme- und Routinefällen werden zudem nicht beanstandet (vgl BFH BStBl II 1989, 727).