Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 2219
Stand: EL 168 – ET: 10/2023
Bei Verletzung der Mitwirkungspflicht des StPfl sind die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO zu schätzen (BFH BStBl II 2002, 4; BFH/NV 2005, 503; 2006, 484; 2006, 914). Wie sich aus § 393 Abs 1 S 1 AO, wonach die Rechte und Pflichten des StPfl und der FinBeh im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren sich nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften richten, ergibt, ist der einer Straftat Verdächtige sogar nach Einleitung eines Steuerstrafverfahrens im Besteuerungsverfahren zur (wahrheitsgemäßen) Mitwirkung verpflichtet (BFH BStBl II 2002, 328; BFH/NV 2006, 914). Das FA kann trotz eingeleitetem Strafverfahren bei Verletzung der Mitwirkungspflicht einen Schätzungsbescheid erlassen (BFH BFH/NV 2006, 15).
Nach § 162 Abs 2 S 2 AO sind die Besteuerungsgrundlagen insbesondere dann zu schätzen, wenn der StPfl Buchführungsunterlagen und Aufzeichnungen, die er nach den Steuergesetzen zu führen hat, dem FA nicht vorlegen kann (s auch FG Ha EFG 2019, 1353, rkr; BFH BStBl II 2018, 174 und FG Mchn vom 21.11.2017, 2 K 154/16 für den Fall, wenn die Voraussetzungen für eine Durchschnittsbesteuerung nach § 13a Abs 1 S 1 EStG nicht mehr vorliegen). Dies gilt entsprechend auch dann, wenn der StPfl die Unterlagen nicht vorlegen will.
Der Grund, weshalb der StPfl Aufzeichnungen und Bücher nicht vorlegen kann, ist unerheblich (BFH BFH/NV 1995, 28; 2010, 2017). Ein Verschulden des StPfl ist grds keine Voraussetzung für die Schätzung (BFH BFH/NV 2010, 2017). So besteht eine Schätzungsbefugnis auch bei einem unverschuldeten Verlust von Buchführungsunterlagen bzw Aufzeichnungen (BFH BFH/NV 2012, 168; 2013, 497).
Eine Schätzungsbefugnis des FA besteht auch bei überwiegenden Bargeschäften, wenn keine Einzelaufzeichnungen vorgelegt werden und die Tagesendsummenbons keine Stornierungen ausweisen (FG Ha vom 07.02.2019, 6 V 240/18). Werden Stornierungen in Tagessummenbons (Z-Bons) nicht ausgewiesen, sondern allein die verbleibende Differenz, fehlt es an einer ordnungsgemäßen Kassenführung, die das FA dazu berechtigt, Hinzuschätzungen vorzunehmen (BFH BFH/NV 2019, 1; zur Aufbewahrung von Tagessummenbons s auch BFH BFH/NV 2017, 1204).
Fehlen in der Buchführung eines Restaurants bei vorhandenem elektronischen Kassensystem Programmierungsprotokolle zur Kassenprogrammierung, können bare und unbare Umsätze nicht getrennt werden und werden Stornos durch die Beschäftigten unterdrückt, so ist wegen der Gefahr der nahezu beliebigen Manipulation elektronischer Kassensysteme durch Umprogrammierung eine Schätzungsbefugnis des FA eröffnet (s FG BBg vom 20.10.2017, 4 K 4206/14; FG Münster EFG 2017, 846).
Werden die Bareinnahmen mittels offener Ladenkasse oder in ähnlicher Form erfasst, setzt dies ordnungsmäßige Kassenberichte oder vergleichbare Aufzeichnungen voraus (s BFH BFH/NV 2017, 310; FG Sachsen vom 04.04.2008, 5 V 1035/07; FG Saarland EFG 2010, 772; FG Ha vom 16.03.2017, 2 V 55/17). Eine veränderbare Excel-Tabelle genügt dabei diesen Anforderungen regelmäßig nicht (FG Ha vom 01.08.2016, 2 V 115/16).
Rn. 2220
Stand: EL 168 – ET: 10/2023
Weiterhin kommt eine Schätzung in Betracht, wenn die Buchführung formell ordnungswidrig ist und ernsthafte Zweifel an der sachlichen Richtigkeit der Buchführung bzw der Aufzeichnungen bestehen (s zuletzt BFH BFH/NV 2019, 1; 2018, 602; 2017,1204; FG Ha vom 20.05.2019, 6 K 109/18).
Für die Prüfung der formellen Ordnungsmäßigkeit der Buchführung ist das Gesamtbild aller Umstände im Einzelfall maßgebend (BFH BFH/NV 2012, 1921; 2019, 1).
Die Buchführung ist formell ordnungswidrig, wenn sie wesentliche Mängel aufweist oder die Gesamtheit aller unwesentlichen Mängel diesen Schluss fordert (BFH vom 02.12.2008, X B 68/08). Ob ggf nur unwesentliche formelle Buchführungsmängel vorliegen, unterliegt den Regeln der freien Beweiswürdigung (BFH BFH/NV 2012, 1921; 2019, 1).
Maßgeblich für eine Hinzuschätzung ist, dass die Verletzung der formellen Ordnungsmäßigkeit der Kassenführung dazu führt, dass keine Gewähr mehr für die Vollständigkeit der Erfassung der Bareinnahmen geboten wird. Infolge von fehlenden Stornobuchungen lässt sich nicht mehr feststellen, ob lediglich Fehlbuchungen oder auch Einnahmebuchungen gelöscht worden sind (BFH BFH/NV 2019,1).
Je nachdem, wie schwer die Mängel wiegen und die Besteuerungsgrundlagen ermittelt wurden, ist unter Umständen nur eine ergänzende Schätzung erforderlich und zulässig. Das FA kann auch von einer Schätzung absehen und von einem bestimmten Sachverhalt ausgehen (zB an Hand aufgefundener Aufzeichnungen des StPfl, BFH BFH/NV 2010, 2015).
Liegt eine formell ordnungsgemäße Buchführung vor, so ist es Sache des FA, die in diesem Fall bestehende Vermutung der sachlichen Richtigkeit zu widerlegen.
a) Schätzung des Grundsachverhalts
Rn. 2221
Stand: EL 168 – ET: 10/2023
Voraussetzung für eine Schätzung des Gewinns oder des Umsatzes ist die Feststellung, ob überhaupt Einkünfte erzielt wurden. Hier stellt sich die Frage, ob neben der Höhe der Einkünfte auch der Grundsachverhalt geschätzt werde...