Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
a) Zeitliche Erfassung
Rn. 75
Stand: EL 139 – ET: 10/2019
Die (negative) BV-Eigenschaft setzt zunächst eine am Bilanzstichtag rechtlich wirksam entstandene (§ 246 Abs 1 S 3 HGB) u/o wirtschaftlich verursachte Verpflichtung des betreffenden Bilanzierungssubjekts voraus. Eine Verpflichtung ist rechtlich entstanden, wenn die die Leistungspflicht auslösenden Tatbestandsmerkmale sämtlich erfüllt sind, was idR zweifelsfrei bestimmt werden kann; auf die Geltendmachung des Anspruchs durch den Anspruchsberechtigten kommt es hierbei nicht an (A/D/S, § 249 HGB, Rz 64, 6. Aufl). Wirtschaftlich verursacht ist eine Verpflichtung nach st Rspr, wenn der zur Verbindlichkeit führende Tatbestand im Wesentlichen vor dem Bilanzstichtag verwirklicht wird bzw die Ereignisse, die zum Entstehen der Verpflichtung führen, wirtschaftlich dem abgelaufenen Geschäftsjahr zuzurechnen sind. Fallen rechtliche Entstehung und wirtschaftliche Verursachung auseinander, ist für die zeitliche Erfassung aufgrund des Vorsichtsprinzips der frühere Zeitpunkt maßgebend.
Der Ansatz einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten setzt voraus, dass die den Rückstellungen zugrunde liegenden Verpflichtungen bis zum Bilanzstichtag entstanden sind oder mit einiger Wahrscheinlichkeit entstehen werden und der StPfl spätestens bei Bilanzaufstellung ernsthaft damit rechnen muss, hieraus in Anspruch genommen zu werden. Die Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme ist auf Grund objektiver, am Bilanzstichtag vorliegender und spätestens bei Aufstellung der Bilanz erkennbarer Tatsachen aus der Sicht eines sorgfältigen und gewissenhaften Kaufmanns zu beurteilen; es müssen mehr Gründe für als gegen die Inanspruchnahme sprechen (R 5.7 Abs 2 EStR 2012).
Beispiel:
Die Unternehmensleitung beschließt am 15.12.00 aus wirtschaftlicher Notwendigkeit eine Restrukturierungsmaßnahme, die zur Aufstellung eines Sozialplans nach §§ 11, 12 BetrVG verpflichtet (s Rn 1278). Der Betriebsrat wird am 07.01.01 informiert.
Ein Rückstellungsansatz für sozialplanbedingt voraussichtlich künftige Leistungen ist am 31.12.00 vorzunehmen (BMF v 02.07.1977, BStBl I 1977, 280; R 5.7 Abs 9 S 2 EStR 2012). Die Verpflichtung entsteht rechtlicher erst mit Abschluss des Sozialplans, der Wahrscheinlichkeitsgrad des Entstehens der Verpflichtungen ist am 31.12.00 gleichwohl hoch genug, um den Bilanzansatz nach dem dortigen Erkenntnisstand zu rechtfertigen. Dennoch ist zu diesem Zeitpunkt (31.12.00) eine Rücknahme der Entscheidung nicht völlig ausgeschlossen. Entstehen Verbindlichkeiten (Abfindungen) letztlich tatsächlich nicht (bei Rücknahme der Entscheidung), ist die Rückstellung aufzulösen.
b) Zurechnung von Verbindlichkeiten
ba) Zurechnungsgrundsätze
Rn. 76
Stand: EL 139 – ET: 10/2019
Die Zurechnung von Verbindlichkeiten wird – im Gegensatz zur Zurechnung von WG – kaum diskutiert. § 246 Abs 1 S 3 HGB, der über § 5 Abs 1 EStG auch für das Steuerrecht gilt, ordnet an, dass Schulden in der Bilanz des Schuldners, dh bei dem auszuweisen sind, der im Außenverhältnis rechtlich verpflichtet ist, wenn eine wirtschaftliche Belastung/wahrscheinliche Inanspruchnahme gegeben ist. Schulden sind damit – vorbehaltlich wirtschaftlicher Belastung – demjenigen zuzurechnen, in dessen Namen sie begründet wurden. Dies gilt grds auch dann, wenn eine Schuld für fremde Rechnung eingegangen wurde (Schmidt/Ries in Beck'scher Bilanz-Kommentar, § 246 HGB Rz 51 (11. Aufl)). Fallen Außen- u Innenverpflichtung vollständig auseinander, kommt eine Saldierung von Verbindlichkeit und (aktivierungspflichtigem) Freistellungsanspruch nicht in Betracht (vgl auch IDW RS HFA 34, Rz 30).
Unbeschadet der Passivierung bei dem im Außenverhältnis rechtlich Verpflichteten hat der im Innenverhältnis in Gestalt der parallelen Freistellungsverpflichtung rechtlich u wirtschaftlich Verpflichtete die Verpflichtung auch in seiner Bilanz zu zeigen (Freistellungsverpflichtung als abgeleitete Schuld, vgl A/D/S, § 246 HGB Rz 415f (6. Aufl); Schmidt/Ries, aaO). Bzgl Freistellungsverpflichtung/-anspruch besteht ein eigenständiges Schuldverhältnis (BMF v 24.06.2011, BStBl I 2011, 627 Rz 6; vgl auch BFH v 16.12.2009, I R 102/08, BStBl II 2011, 566). Ein Bruttoausweis von originärer Schuld und abgeleiteter Freistellungsverpflichtung führt faktisch zu einer bilanziellen Verdopplung der Schuld. Mit der Aktivierung des im Innenverhältnis bestehenden Rückgriffsanspruchs wird der Verpflichtungsausweis gleichwohl bei dem im Außenverhältnis Verpflichteten im (Netto-)Ergebnis korrigiert (ergebnisneutrale Bilanzverlängerung).
Wirtschaftliche Belastung: Ob eine Verpflichtung den Schuldner wirtschaftlich belastet, hängt von der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme durch den Gläubiger ab (BFH v 22.11.1988, VIII R 62/85, BStBl II 1989, 359). Von einer wirtschaftlichen Belastung ist bei rechtlichem Bestand einer dem Grunde u der Höhe nach gewissen Verpflichtung regelmäßig auszugehen (BFH v 23.09.1969, I R 22/66, BStBl II 1970, 104; BFH v 14.03.1986, III R 179/82, BStBl II 1986, 669; BFH v 25.04.2006, VIII R 40/04, BStBl II 2006, 749; Wassermeyer, WPg 200...