Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 860
Stand: EL 76 – ET: 11/2007
Die Rückstellungen sind mit Abstand das umstrittenste Gebiet der handels- und steuerrechtlichen Bilanzierung. Der Grund hierfür erschließt sich schon aus dem einschlägigen Gesetzestext in § 249 Abs 1 S 1 HGB. Rückstellungen sind danach für ungewisse Verbindlichkeiten und für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften zu bilden. In diese Bilanzposition ist also die Unsicherheit und ein undefinierbares Drohen begrifflich hineingelegt. Dieses Problems kann man sich bei der handels- und steuerrechtlichen Bilanzierung nicht dadurch entledigen, dass nur sichere Positionen in die entsprechende Jahresrechnung eingehen. Sei es aufgrund des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Periodenzuordnung (§ 252 Abs 1 Nr 4 HGB; matching principle), sei es wegen des den Vorsichtsgedanken ausprägenden Imparitätsprinzips (§ 252 Abs 1 Nr 4 HGB), müssen in die Jahresrechnung Positionen eingebaut werden, die dem Grunde und/oder der Höhe nach eben ungewiss sind, bzw Umstände berücksichtigt werden, die erst drohen, also auch mit einer Unsicherheit behaftet sind.
Rn. 861
Stand: EL 76 – ET: 11/2007
Der Bilanzersteller ist deshalb in jedem Fall dem Phänomen der menschlichen Unzulänglichkeit hinsichtlich der Prognostizierung künftiger Ereignisse und Entwicklungen ausgeliefert. Er hat bei der Erstellung des JA den Kenntnisstand zu berücksichtigen, den er am Bilanzstichtag hatte bzw bei sorgfältiger Arbeit hätte haben müssen, wobei er dann (nur) noch die zusätzlichen Erkenntnisse bis zur Bilanzerstellung berücksichtigen darf (s Rn 421ff). Bei allen Bemühungen um die sog Objektivierung der Rechnungslegung sind hier der betriebswirtschaftlichen Wissenschaft und Praxis unüberwindliche naturgegebene Grenzen gesetzt. In der Diskussion umschreibt man dieses Phänomen verschämt mit kaufmännischem Ermessen, ohne dabei zum Ausdruck zu bringen, dass im Rahmen dieses Ermessens erhebliche Ergebnisunterschiede handels- und steuerrechtlich darstellbar und vertretbar sind, die uU die Größe eines dann ausgewiesenen Jahresüberschusses bzw -fehlbetrages durchaus übersteigen können (Clemm, DStR 1990, 780; Hoffmann, BB 1994, 1743; Hoffmann/Lüdenbach, DB 2003, 1965; s Rn 27). Ob ein Garantieaufwand für eine industrielle Großanlage, ausgeliefert in Indonesien, überhaupt entsteht und dann in welcher Höhe – das kann auch der sorgfältigste Kaufmann nicht prognostizieren. Ob eine eingeklagte Schadensersatzverpflichtung wegen Produkthaftpflicht dem Grunde nach überhaupt zu einer Verpflichtung führt und ggf in welcher Höhe, das kann auch das klügste Juristenteam dem Kaufmann nicht einigermaßen genau auf Euro und Cent verbrieft in einem Buchungsbeleg überreichen. Das praktische Problem gerade auf dem Gebiet der Besteuerung ist dann, dass uU viele Jahre später ein Betriebsprüfer oder ein Richter mit der geballten Kraft des Kenntnisstandes post festum die Sache zu beurteilen hat. Ist dann zumal bekannt, dass der Garantieaufwand nur 10 Mio statt den ursprünglich bilanzierten 60 Mio EUR erforderte und dass eine Schadensersatzpflicht rechtskräftig nicht festgestellt worden ist, wird man kaum die Rechtsauffassung durchsetzen können, dass am Bilanzstichtag fünf Jahre zuvor die objektive Lage oder die "Wahrscheinlichkeit" für eine Bilanzierung in der konkret gewählten und eben nicht als nachträglich "richtig" erwiesenen Höhe hat führen müssen.
Aus diesen Erkenntnissen folgt auch, dass die Bilanzposition "Rückstellungen" die Spielwiese Nr 1 der Handels- und Steuerbilanzpolitik darstellen und mit der weiteren zwingenden Folge der besonderen "Streitanfälligkeit", wenigstens bei der StB.
Rn. 862
Stand: EL 76 – ET: 11/2007
Angesichts dieses Befundes überrascht, dass das EStG zwar von dem Erfordernis der Bildung von Rückstellungen ausgeht (s § 5 Abs 3 u 4 EStG), diese aber als so selbstverständliche Bilanzposten ansieht, dass es sie gar nicht weiter zu beachten scheint. Das Rätsel löst sich über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs 1 S 1 EStG, dh, mehr als sonst noch begibt sich das ESt-Recht bei der Rechnungslegung in die Obhut des HGB, bei der Bewertung allerdings zunehmend eingeschränkt (s Erläut zu § 6).