Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 395
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Gemäß § 252 Abs 1 Nr 4 HGB ist vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste zu berücksichtigen, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind; Gewinne sind erst (und nur) zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind. Das Vorsichtsprinzip ist grundlegender, das Handelsbilanzrecht wesentlich prägender GoB, der ausweislich § 252 Abs 1 Nr 4 HGB ("namentlich") durch das Imparitäts- und Realisationsprinzips konkretisiert wird (vgl Moxter, Bilanzlehre, Bd II, 37–39 (3. Aufl 1986); ADS, § 252 HGB Rz 60–63 (6. Aufl 1995); Kahle in HdJ, Abt VII/1 Rz 76 (Februar 2019); Störk/Büssow in BeBiKo, § 252 Rz 42 (13. Aufl 2022)). § 252 Abs 1 Nr 4 HGB weist dem Vorsichtsprinzip explizit Bedeutung für die Bewertung zu, gemäß § 5 Abs 1 EStG mit Relevanz auch für das Steuerrecht (zB BFH v 26.04.1989, I R 147/84, BStBl II 1991, 21).
Besondere Relevanz erhält das sehr abstrakte Vorsichtsprinzip iRd Schätzungsermessens des Kaufmanns. Bei zahlreichen Bilanzpositionen (Bewertung von Beteiligungen, von Forderungen, Rückstellungen) besteht häufig ein beachtlicher Schätzrahmen. Dieser ist vorsichtig auszufüllen, dies gilt vorbehaltlich abweichender Regelungen auch für die steuerliche Bilanzierung. Über den Wortlaut des § 252 Abs 1 Nr 4 HGB hinaus hat das Vorsichtsprinzip ebenso Bedeutung für den Bilanzansatz, wie insbesondere das Aktivierungsverbot für selbst geschaffene Marken, Drucktitel, Verlagsrechte, Kundenlisten oder vergleichbare immaterielle Vermögensgegenstände des AV gemäß § 248 Abs 2 HGB sowie die Verpflichtung zur Passivierung von Rückstelllungen für ungewisse Verbindlichkeiten und drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (§ 249 Abs 1 S 1 HGB) verdeutlichen. Auch die Rspr geht von der Geltung des Vorsichtsprinzips auch in Ansatzfragen aus (zB BFH v 26.04.1989, I R 147/84, BStBl II 1991, 213 für den Fall eines Schadensersatzanspruchs). Eine vorsichtige Bilanzierung umfasst das Gebot, Vermögensgegenstände auszuweisen, sobald und solange sie dem Bilanzierenden zuzurechnen sind und ebenso das Verbot, Vermögensgegenstände auszuweisen, die dem Bilanzierenden noch nicht oder nicht mehr zuzurechnen sind. Ein "sich-reich-Rechnen" (etwa durch vorzeitige Berücksichtigung eines Zugangs oder vorzeitige Berücksichtigung eines (gewinnrealisierenden) Abgangs eines Vermögensgegenstandes) scheidet ebenso aus wie ein übervorsichtiges "sich-arm-Rechnen". Dies gilt trotz zunächst bilanzieller Neutralität auch bei Anschaffungsvorgängen, insbesondere da der angeschaffte Vermögensgegenstand typischerweise spezifischen Risiken (Chancen) unterliegt, die anderenfalls nicht/nicht rechtzeitig berücksichtigt werden.
Das Vorsichtsprinzip dient handelsrechtlich dem Gläubigerschutz durch Erhaltung der Haftungssubstanz, indem es einen überhöhten Gewinnausausweis und in der Folge überhöhte Gewinnausschüttungen verhindert. Der vorsichtige Gewinnausweis erfordert eine ungleiche (imparitätische) Behandlung von Gewinnen/Verlusten. Ein Gewinn darf demgemäß erst ausgewiesen werden, wenn er durch einen Umsatzakt am Markt bestätigt wurde, Realisationsprinzip (zu Realisationsgrundsätzen/-tatbeständen im Einzelnen s Rn 410ff). Das Vorsichtsprinzip verhindert in der Ausprägung des Realisationsprinzips, dass bloße Wertsteigerungen dem Bilanzierenden unverändert zuzurechnender WG nicht zu einem Gewinnausweis führen. Aus dem Realisationsprinzip folgt das AK-Prinzip, dh die Bewertung von Vermögensgegenständen höchstens zu AK/HK.
Nach dem Imparitätsprinzip dagegen sind "alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen" (§ 252 Abs 1 Nr 4 HGB). Konsequenz auf Ansatzebene ist die Verpflichtung zur Bildung von Rückstellungen für drohende Verluste aus schwebenden Geschäften (§ 249 Abs 1 S 1 HGB), Konsequenz auf Bewertungsebene die verlustfreie Bewertung von Vermögensgegenständen und Schulden, konkret die Bewertung nach Maßgabe des Niederstwertprinzips von Aktiva (§ 253 Abs 3, 4 HGB), nach Maßgabe des Höchstwertprinzips bei Schulden (vgl Kahle in HdJ, Abt VII/1 Rz 102 (Februar 2019)).
Mit der verstärkten Gewichtung des Rechenschaftszwecks/der Informationsfunktion des handelsrechtlichen Jahresabschlusses im Zuge des BilMoG v 25.05.2009 (BGBl I 2009, 1102) hat das Vorsichtsprinzip zwar keine tiefgreifenden Einschränkungen, dennoch aber eine sichtbare handelsrechtliche Erosion erfahren, wie im Besonderen an
- der Aktivierungspflicht (statt zuvor Aktivierungswahlrecht) für den derivativen Geschäfts- oder Firmenwert (§ 246 Abs 1 S 4 HGB),
- dem Aktivierungswahlrecht (statt zuvor generellem Aktivierungsverbot) für selbstgeschaffene immaterielle Vermögensgegenstände des AV (§§ 248, 255 Abs 2a HGB),
- der Zeitwertbewertung (statt imparitätischer Bewertung) von Finanzinstrumenten des Handelsbestands von Kreditinstituten (§§ 255 Abs 4, 340e HGB),
- der Zeitwertbewertung (statt imparitätischer Bewertung) des Deckungsvermögens (§ 246 Abs 2 HGB) oder
- den ges...