Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
Rn. 598
Stand: EL 174 – ET: 08/2024
Trotz des klaren, in der Frage der abstrakten Aktivierungsfähigkeit keinen Raum für Abweichungen in systematischer Hinsicht belassenden Verhältnisses von VG- und WG-Begriff, werden im Handels- und Steuerbilanzrecht abweichende Kriterien für die abstrakte Aktivierungsfähigkeit zur Anwendung gebracht.
Selbstständige Verwertbarkeit als (strengeres) handelsrechtliches Aktivierungskriterium:
Die Aktivierungsfähigkeit eines Gutes setzt nach handelsrechtlich hM – abweichend vom steuerlichen, durch die BFH-Rspr geprägten Kriterienkatalog – neben der bilanziellen Greifbarkeit dessen selbstständige Verwertbarkeit voraus (vgl zB Lamers, Aktivierungsfähigkeit und Aktivierungspflicht immaterieller Werte, 207 (1981); Fabri, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung entgeltlicher Nutzungsverhältnisse, 48ff (1986); Marx, BB 1994, 2382; A/D/S, § 246 HGB Rz 26–28 (6. Aufl 1998); v Keitz, Immaterielle Güter in der internationalen Rechnungslegung, 31 (1997); Lutz/Schlag in HdJ, II/1 Rz 3 (02/2022)).
Dem Kriterium der selbstständigen Verwertbarkeit gingen abweichende Konkretisierungsvorschläge voraus (Überblick bei A/D/S, § 246 HGB Rz 15ff (6. Aufl 1998)). Nach dem Kriterium der konkreten Einzelveräußerbarkeit ist ein Gut dann abstrakt aktivierungsfähig, wenn es allein im Rechtsverkehr übertragen werden kann, dh selbstständig veräußerbar ist. Güter, die aufgrund eines gesetzlichen oder vertraglichen Veräußerungsverbots nicht veräußert werden dürfen oder mangels (potenzieller) Abnehmer nicht veräußert werden können, wären demnach keine VG. Da auf dieser Grundlage in § 266 Abs 2 A I 1 HGB als VG erfasste Güter nicht als solche aktiviert werden dürften (nicht einzelveräußerbare immaterielle Güter, zB entgeltlich erworbenes Nießbrauchsrecht (§ 1059 BGB)) und dem Kriterium GoB-inkonform die Zerschlagungsannahme zugrunde liegt, wird es zu Recht als zu eng abgelehnt (vgl zB v Keitz, aaO, 22 f mwN). Das Kriterium der abstrakten Einzelveräußerbarkeit, demgemäß ein Gut abstrakt aktivierungsfähig ist, wenn die abstrakte Möglichkeit der Veräußerung gegeben ist, es also seiner Natur nach – unabhängig von gesetzlichen/vertraglichen Veräußerungsverboten oder fehlenden Abnehmern – einzeln veräußerbar ist, wird als zu weit abgelehnt, insb da aufgrund der begrifflichen Unschärfe des Kriteriums nicht in jedem Fall eindeutig und objektiv bestimmt werden kann, ob ein Gut der Natur der Sache nach übertragen werden kann (stellvertretend v Keitz, aaO, 24 mwN).
Nach dem handelsrechtlich konsensfähigen Kriterium der selbstständigen Verwertbarkeit sind nur diejenigen Güter abstrakt aktivierungsfähig, die unternehmensextern in Geld transformiert werden können (Lamers, Aktivierungsfähigkeit und Aktivierungspflicht immaterieller Werte, 205ff (1981)); entscheidende Bedeutung wird der Existenz eines wirtschaftlich selbstständig verwertbaren Potenzials zur Deckung der Schulden des Unternehmens beigemessen (vgl Marx, BB 1994, 2382). Die Forderung der Schuldendeckungsfähigkeit der einzelnen aktiven Bilanzierungseinheit ist Folge des Gläubigerschutzzwecks der HB. Das Kriterium der selbstständigen Verwertbarkeit wird demgemäß dann als erfüllt angesehen, wenn eine Verwertung im Wege der Veräußerung, der entgeltlichen Nutzungsüberlassung sowie im Wege des bedingten Verzichts möglich ist (Lamers, Aktivierungsfähigkeit und Aktivierungspflicht immaterieller Werte, 216 (1981); Fabri, Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung entgeltlicher Nutzungsverhältnisse, 51 (1986), darüber hinaus, wenn eine selbstständige Verwertung im Wege der Zwangsvollstreckung in Betracht kommt (A/D/S, § 246 Rz 28 (6. Aufl 1998); v Keitz, Immaterielle Güter in der internationalen Rechnungslegung, 25 (1997)).
Rn. 599
Stand: EL 174 – ET: 08/2024
Abweichende (handelsrechtliche) Rechtsfortbildung durch den BFH: Bereits in seiner ersten Entscheidung zur Aktivierungsfähigkeit zur Rechtslage nach StÄndG 1969 bestätigte der BFH zwar die systematische Identität von VG und WG, will den VG-Begriff und in der Folge den WG-Begriff gleichwohl in einem deutlich weiteren Sinne verstanden wissen, als die hM im Handelsrecht, BFH v 26.02.1975, I R 72/73, BStBl II 1976, 13:
Zitat
"Die Klägerin versteht [...] den handelsrechtlichen Begriff des VG zu eng, wenn sie das Merkmal der selbständigen Verkehrsfähigkeit fordert."
Eine Begründung für dieses vermeintlich zu enge handelsrechtliche Begriffsverständnis steht bis dato aus. Gleichwohl hält die BFH-Rspr hieran fest, lehnt das Kriterium der selbstständigen Verwertbarkeit explizit ab (s Rn 595) und bejaht (handels- und) steuerrechtliche abstrakte Aktivierungsfähigkeit bereits, wenn bei Übertragbarkeit zusammen mit dem Betrieb bilanzielle Greifbarkeit und selbstständige Bewertbarkeit vorliegen (s Rn 594).
Die selbstständige Bewertbarkeit ist nach handelsrechtlich hM kein hinreichendes Kriterium für die Annahme eines VG (zB A/D/S, § 246 Rz 24 (6. Aufl 1998); Marx, BB 1994, 2382), sondern implizites, objektivierendes Merkmal des Kriteriums der selbs...