Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach, Prof. Dr. Wolf-Dieter Hoffmann
fa) Rechtslage
Rn. 493
Stand: EL 80 – ET: 08/2008
In der Rspr ist auch noch nicht ausreichend geklärt, welche Bedeutung dem tatsächlichen Zeitpunkt der Bilanzerstellung zukommt. Denn mit zunehmendem Zeitabstand zum Bilanzstichtag wächst das potenzielle Wertaufhellungsvolumen über die Verhältnisse am Bilanzstichtag. Aber mit der Wertaufhellung muss es irgendwann einmal sein Ende haben, wenn nicht die stichtagsbezogene Bilanzierung überhaupt ad absurdum geführt wird. Die Höhe des steuerlichen Gewinns kann unmöglich davon abhängig gemacht werden, wann der betreffende Kaufmann seine Bilanzierungspflichten erfüllt. Das FG D'dorf, EFG 2000, 304 hat das Ende des Wertaufhellungszeitraumes auf 12 Monate nach dem Bilanzstichtag festgelegt, so auch BFH BStBl II 1984, 227, allerdings mit Einschränkungen. Mit den handelsrechtlichen Fristen für KapGes u KapGes & Co-Gesellschaften in § 264 Abs 1 HGB hat sich der BFH bislang nicht identifiziert.
Erstmals im Urt BFH v 15.09.2004, I R 5/04, BFH/NV 2005, 421 hat sich der BFH eingehender mit der Frage befasst, wann eigentlich eine Bilanz erstellt ist. Das Bilanzierungs-Procedere stellt einen fortlaufenden Prozess dar, der zu unterschiedlichen Zeiträumen die einzelnen Bilanzpositionen abschließt. Konkrete Frage: Ist ein am 20.01. (Bilanzstichtag 31.12.) bekannt gewordener Forderungsausfall zu berücksichtigen, wenn die Position "Debitoren" am 10.01. abschließend erstellt und vom Abschlussprüfer geprüft worden ist, oder muss bei förmlicher Unterzeichnung des JA durch den Kaufmann am 15.02. dieser Forderungsausfall noch berücksichtigt, muss also maW die Position "Debitoren" abgeändert werden? Die Antwort des BFH lautet: Maßgeblich ist die förmliche Bilanzerstellung, allerdings mit einer Ausnahme für "relativ unbedeutende Risiken". Im letztgenannten Aspekt kommt der Materiality-Grundsatz zum Tragen, der für Zwecke der kaufmännischen Rechnungslegung allg und für die Abschlusserstellung speziell grundlegende Bedeutung hat.
Aus praktischer Sicht kann man dieser Lösung des BFH durchaus zustimmen. Im Übrigen reduziert sich dieses Problem durch den fortlaufenden Trend zum so genannten "fast close", also einer Abschlusserstellung nur wenige Tage nach dem Bilanzstichtag. Dieser Aspekt schränkt die Praxistauglichkeit der beiden in s Rn 489 genannten Wertaufhellungskonzeptionen weiter ein.
Nach Auffassungen im Schrifttum definiert nicht die Abschlusserstellung, sondern die Feststellung den Werterhellungszeitraum. Diese von Welf Müller, FS Quack 1991, 367 und Kropff, FS Ludewig 1996, 524 vertretene Meinung übersieht die verschiedenen Rechtssphären und deren Verantwortlichkeiten (hierzu Küting/Kaiser, WPg 2000, 577, 582).
fb) Steuerliches Sonderrecht?
Rn. 494
Stand: EL 80 – ET: 08/2008
Nochmals zurück zu dem obigen Fall mit dem Haarwaschmittel (s Rn 492b). Die Berücksichtigung des Schadens hängt vom Eingehen der Information vor oder nach der Bilanzerstellung ab (wenn das schadhafte Los tatsächlich vor dem Bilanzstichtag produziert worden ist). Die Bilanz wäre dann so oder so – Informationseingang vor oder nach Bilanzerstellung – für StB-Zwecke unrichtig, wenn man dem Konzept von Weber-Grellet, FS Reiß 2008, 483 folgt: Alle am Bilanzstichtag bestehenden Umstände sind bis zur Rechtskraft der Veranlagung zu berücksichtigen. Die StB verfolge andere Zwecke als die HB, nämlich die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. § 5 Abs 1 S 1 EStG iVm § 252 Abs 1 Nr 4 HGB müssen dieser Auffassung zufolge unbeachtet bleiben.
Die Rechtskraft der Veranlagung kann sich Weber-Grellet zufolge bis zum Ende des finanzgerichtlichen Verfahrens hinziehen, in der Praxis also in Zeiträumen regelmäßig zwischen sechs und zwölf Jahren. Alle am Bilanzstichtag bestehenden Verhältnisse sind nicht nur bei Bekanntwerden bis zur Bilanzerstellung, sondern bis zur rechtskräftigen Veranlagung zu berücksichtigen. Die Kenntnisse oder das Kennenmüssen des StPfl am Bilanzstichtag oder am Erstellungstag sollen steuerrechtlich irrelevant sein.
Beispiel:
Eine deutsche Bank hat sog Argentinien-Anlagen im Portefeuille. Sie hat diese in der Bilanz zum 31.12.01 auf 40 % des Nennbetrages abgeschrieben. Darüber entstand ein Rechtsstreit mit dem FA der sich am 31.12.07 im Klageverfahren befand. Bis dahin ist keine Rückzahlung auf die Forderung erfolgt, die Bank begehrt deshalb eine weitere Abschreibung auf Null. Die Frage ist, ob nun das FG die objektiven Verhältnisse am 31.12.01 nach den Vorgaben von Weber-Grellet als "objektiv" mit einem Wert von Null beurteilt oder vielleicht die Entscheidung aussetzt, bis tatsächlich ein Eingang eines Teilbetrages der Forderung oder der endgültige Ausfall feststellt.
Das Bsp soll belegen: Mit der praktisch immerwährenden Hinauszögerung einer Bilanzierungsentscheidung ist der Praxis nicht gedient. Sie erscheint auch im Hinblick auf die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – dem Hauptargument Weber-Grellets – nicht erforderlich, insb im Hinblick auf den wohltuenden Ausgleich des Bilanzenzusammenhangs, der ja eine aus dem objektiven Betrachtungswinkel post fest...