1. Verhältnis zum Gemeinschaftsrecht
Rn. 35
Stand: EL 160 – ET: 10/2022
Die Vereinbarkeit von §§ 48ff EStG mit dem Gemeinschaftsrecht ist in der Literatur umstritten (bejahend: Schwenke, BB 2001, 1553; Bruschke, StB 2002, 130; Apitz in H/H/R, § 48 EStG Rz 6 und Rz 8 (November 2018); Ebling in Brandis/Heuermann, § 48 EStG Rz 33 (Mai 2021); zweifelnd: Fuhrmann, KÖSDI 2001, 13 093; Gosch in Kirchhof/Seer, § 48 EStG Rz 5 (21. Aufl.); Oellerich in Bordewin/Brandt, § 48 EStG Rz 14ff (Dezember 2019); verneinend: Hey, EWS 2002, 153; Wübbelsmann, IStR 2003, 802; Balmes/Ambroziak, BB 2009, 706; Naujok in Lademann, § 48 EStG Rz 35ff (November 2017)). Die Kritiker verweisen auf das Urteil des EuGH v 09.11.2006, C-433/04, HFR 2007, 84 "Kommission vs Belgien", in dem die belgische Regelung eines Steuerabzugs auf Bauleistungen iHv 15 % als gemeinschaftsrechtswidrig angesehen wurde. Nach Ansicht des EuGH ist eine Steuerabzugsverpflichtung für Auftraggeber, die auf Dienstleister zurückgreifen, die bei den belgischen Behörden nicht registriert sind, geeignet, diese Dienstleister davon abzuhalten, auf dem belgischen Markt tätig zu werden. Die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit ist nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt. Der EuGH verweist darauf, dass ein Teil der nicht registrierten Dienstleister in Belgien nicht stpfl ist und keine Möglichkeit für diese Dienstleister vorgesehen ist, einen Nachweis über ihre steuerliche Lage zu führen. Der EuGH sieht in einem System des Informationsaustausches zwischen den Auftraggebern, den Unternehmern und den belgischen FinBeh ein milderes Mittel zur Erreichung des Zwecks.
Rn. 36
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Andererseits hat der EuGH mit Urteil EuGH v 03.10.2006, C-290/04, BStBl II 2007, 352 "FKP Scorpio Konzertproduktionen GmbH" die deutschen Regelungen zum Steuerabzug bei künstlerischen, sportlichen, artistischen oder ähnlichen Darbietungen im Inland gemäß §§ 50a Abs 4, 50d EStG aF im Wesentlichen bestätigt. Der EuGH sieht in der Notwendigkeit, die Effizienz der Beitreibung der ESt zu gewährleisten, einen Rechtfertigungsgrund für die Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit. Das Steuerabzugsverfahren und die seiner Durchsetzung dienende Haftungsregelung würden ein legitimes und geeignetes Mittel darstellen, um die steuerliche Erfassung von außerhalb des Besteuerungsstaats ansässigen Personen sicherzustellen. Dies gelte jedenfalls, solange es keine ausreichenden Regelungen über gegenseitige Amtshilfe zwischen den Mitgliedsstaaten gebe. Der EuGH beanstandet für die Dienstleister, die im Inland nicht stpfl sind, nicht, dass die Befreiung vom Steuerabzug von einer Freistellungsbescheinigung abhängig gemacht wird.
Rn. 37
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Da das in §§ 48ff EStG angeordnete Steuerabzugsverfahren in systematischer Hinsicht mit demjenigen in §§ 50a Abs 4, 50d EStG aF vergleichbar ist, spricht mE viel dafür, dass der EuGH auch die Regelungen für den Steuerabzug auf Bauleistungen als gemeinschaftsrechtskonform beurteilen wird. Der EuGH sah auch keine Veranlassung, infolge des Inkrafttretens von verbesserten unionsrechtlichen Beitreibungsregelungen seine Rspr zu ändern. In dem Urteil des EuGH v 18.10.2012, C-498/10, IStR 2013, 26 "X" führt das Gericht aus, dass eine Verpflichtung zum Einbehalt der Quellensteuer auch nach dem Inkrafttreten der Richtlinie 2001/44/EG v 15.06.2001 durch die Notwendigkeit einer effizienten Steuererhebung gerechtfertigt sei und nicht über das hinausgehe, was erforderlich sei, um das Ziel zu erreichen. Gleiches dürfte auch im Hinblick auf die verbesserten Beitreibungsmöglichkeiten infolge der Richtlinie 2010/24/EU v 16.03.2010 gelten (so jedenfalls BFH I R 46/17, BStBl II 2020, 552, Verfassungsbeschwerde eingelegt, Az des BVerfG: 2 BvR 1392/20).
Rn. 38
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Der BFH ist der Auffassung, dass die Regelungen in §§ 48ff EStG mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind (BFH I R 46/17, BStBl II 2020, 552, Verfassungsbeschwerde eingelegt, Az des BVerfG: 2 BvR 1392/20; auch schon: BFH I B 160/08, BFH/NV 2009, 377; FG He v 16.05.2017, 4 K 63/17, EFG 2017, 1351; FG D'dorf v 10.10.2017, 10 K 1513/14 E, EFG 2018, 959; zweifelnd: FG BBg v 08.07.2008, 13 V 9389/07, DStRE 2008, 1449). Dabei verweist der BFH auf den Umstand, dass in §§ 48ff EStG nicht danach unterschieden wird, ob die Bauleistungen durch einen inländischen oder ausländischen Unternehmer erbracht werden (ebenso: Schroen, IStR 2001, 714). Deshalb ist die deutsche Regelung nicht mit der belgischen Bauabzugsteuer vergleichbar, die zwischen registrierten und nicht registrierten Dienstleistern unterschieden hat. Die deutsche Regelung kann nach Ansicht des BFH nur insoweit als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen werden, soweit ausländische Leistende wegen des Freistellungs- und Erstattungsverfahrens einem hohen bürokratischen Aufwand ausgesetzt sind. Das sei aber durch den Rechtfertigungsgrund der Effizienz der Steuererhebung gedeckt und halte auch einer Verhältnismäßigkeitsprüfung stand.
Rn. ...