Jürgen Dräger, Tobias Müller
Rn. 42
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
Erst recht beginnen aber die Probleme bei den zukunftsorientierten Positionen, und das sind im Grunde genommen alle wesentlichen, die in der Bilanz erscheinen. Bsp:
- Abnutzbares Sach-AV (Maschinen, Autos) müssen entsprechend ihrer Nutzungsdauer abgeschrieben werden. Ob damit der "wirkliche" Wert durch die Wahl des konkreten Abschreibungsbetrages, der die Teilnutzungsdauer repräsentiert, reflektiert wird, kann im Einzelfall niemand feststellen. Hinzu kommt als weiteres Unsicherheitsmoment die Festlegung der "voraussichtlichen Nutzungsdauer". Die Übernahme des Wertes aus der finanzamtlichen AfA-Tabelle sagt ja noch lange nicht, dass diese "amtliche Schätzung" die richtige ist. Auch eine Behörde kann nicht besser schätzen als der Kaufmann.
- Die Wertminderung des Vorratsvermögens durch Verschleiß, modischen Wandel oder technische Überholung lässt sich allenfalls dem Grunde nach feststellen; exakt ist die Wertfeststellung im eigentlichen Sinne nur dann, wenn tatsächlich ein funktionierender Markt vorhanden ist, wie näherungsweise etwa im Gebrauchtwagensegment oder erst recht bei den börsengängigen Wertpapieren oder für Rohstoffe, für die eine Warenbörse besteht.
- Ausleihungen und Kontokorrentkredite von Banken an zweifelhafte Schuldner sind allenfalls erst dann exakt bewertbar, wenn letztere sich im Insolvenzverfahren befinden.
- Verpflichtungen aus Einzelgewährleistungen, Produkthaftpflichtfällen, Schadensersatzverpflichtungen, Umweltschäden, Altersteilzeitverpflichtungen etc sind immer nur in ganz grobem Rahmen abschätzbar.
Rn. 43
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
Solche ungenauen Wertermittlungen (Schätzungen) sind der kaufmännischen Rechnungslegung immanent. Dies wiederum hat einen zwingenden ökonomischen Hintergrund, denn die Werthaltigkeit eines Vermögensgegenstandes resultiert ausschließlich aus dem mutmaßlichen künftigen Einnahmeüberschuss nach IAS ("Cash generating unit"). Es besteht diesbezüglich für die steuerliche Gewinnermittlung keinerlei Unterschied gegenüber der kaufmännischen Rechnungslegung nach nationalen oder internationalen Regelungen, da in jedem Fall die Gewinnermittlung durch einen Vergleich zwischen zwei Vermögenseinheiten erfolgt. Das Schätzungserfordernis infolge nur unzulänglicher Wertermittlungsmöglichkeiten hat auch der BFH schon sehr früh zum Ausdruck gebracht (BFH BStBl III 1966, 142):
Zitat
"Soweit das zu besteuernde Einkommen den Gewinn erfasst, ist oft eine absolut richtige Ermittlung für den einzelnen Veranlagungsabschnitt nicht möglich … Die in der Bilanz ausgewiesenen Aktiven und Passiven beruhen aber nicht auf feststehenden unbedingt zutreffenden Wertmaßstäben. Für den Ansatz dieser Wertmaßstäbe ergeben sich … vielerlei Gesichtspunkte. Die zu wählenden Wertmaßstäbe beruhen ua auf einem Wahlrecht oder auf einem Ermessen des StPfl ... Aus alledem folgt, dass es kein absolut zutreffend bewertetes BV und … keinen absolut zutreffenden gewerblichen Gewinn, den allein richtigen Gewinn, geben kann."
Rn. 44
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
Dem ist aus ökonomischer Sicht nichts hinzuzufügen außer dem Hinweis, dass die genannten Schätzungsungenauigkeiten und die damit verbundenen Ermessensentscheidungen des Kaufmanns im Einzelfall durchaus den ausgewiesenen Jahresüberschuss oder -fehlbetrag um ein Vielfaches übertreffen können – ein Gedanke, der als eine Art Lebenslüge durch Verschweigen der gesamten Rechnungslegungsbetreiber bezeichnet werden kann.
Vor diesem Befund erweisen sich wohlklingende "bilanzphilosophische" Aussprüche wie die Aussagen, dass sich die Schätzungen des Kaufmanns innerhalb des Schätzungsrahmens bewegen (FG BaWü EFG 1978, 316) und die Schätzungen frei von Willkür sein müssen, als allg ebenso richtig wie praktisch kaum verwertbar. Das gilt trotz des "grundlegenden" BFH-Befundes (BFH BStBl III 1958, 291), demzufolge bei Schätzungen innerhalb des Schätzungsrahmens derjenigen des Kaufmanns zu folgen ist; die Frage ist nämlich, wer und nach welchem Kriterium den Schätzungsrahmen definiert. Hierzu auch s §§ 4,5 Rn 21ff (Briesemeister).
Rn. 45
Stand: EL 175 – ET: 09/2024
In der Besteuerungspraxis entsteht das entscheidende Problem in diesem Zusammenhang dadurch, dass regelmäßig durch eine finanzamtliche Außenprüfung Jahre nach dem Bilanzstichtag ein ganz anderer Erkenntnisstand vorliegt als im Zeitraum der Bilanzerstellung durch den Kaufmann. Zwar wird allg in der Rspr im Zusammenhang mit dem Wertaufhellungsproblem (s §§ 4,5 Rn 488ff (Hoffmann)) propagiert, dass nur der mögliche Kenntnisstand des Kaufmanns am Bilanzstichtag, "aufgehellt" durch bestimmte zusätzliche Erkenntnismöglichkeiten, der Besteuerung zugrunde gelegt werden darf (so zB BFH BStBl II 1975, 294).
Das praktische Problem besteht aber darin, dass sich niemand gegenüber der besseren Erkenntnis aus späterer Zeit rückwirkend unwissend stellen kann. Im Steuerstreit ist es deshalb zB kaum möglich, einem Betriebsprüfer die Wertlosigkeit einer Ausleihung an einen fremden Gläubiger oder an eine Tochtergese...