Rn. 50
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
§ 62 EStG bestimmt den Kreis der Anspruchsberechtigten für das Kindergeld nach dem X. Abschnitt. Ein Anspruch besteht dann, wenn ein Elternteil die in § 62 EStG bezeichneten persönlichen Voraussetzungen erfüllt und bei ihm mindestens ein Kind zu berücksichtigen ist, für das weder ein Ausschlusstatbestand nach § 65 EStG noch nach über- bzw zwischenstaatlichem Recht vorliegt (A 1 Abs 1 S 2 DA-KG 2021)).
Zu berücksichtigen sind insbesondere (vgl O 2.4 Abs 2 S 4 DA-KG 2021):
- zwischenstaatliche (zwei- oder mehrseitige) Vereinbarungen und Abkommen über Soziale Sicherheit,
- die Verordnungen (EG) Nr 883/2004 und Nr 987/2009, anzuwenden im Verhältnis zu den EU-Staaten, zur Schweiz und zu den EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen,
- das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (Austrittsabkommen EU/VK),
- die Verordnung (EG) Nr 859/2003 (im Verhältnis zum Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland in Bestandsfällen ggf weiterhin anzuwenden),
- die Verordnung (EU) Nr 1231/2010, gültig in allen Mitgliedstaaten der EU mit Ausnahme von Dänemark.
Rn. 51
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Die VO (EG) Nr 987/2009 sowie die VO (EG) Nr 883/2004 haben als Unionsrecht Anwendungsvorrang, so dass ihre Regelungen von Amts wegen anzuwenden sind, sofern der Berechtigte oder ein Familienangehöriger in den persönlichen Anwendungsbereich der genannten VO fallen, BFH v 05.07.2012, III R 76/10, BFH/NV 2012, 710; BFH v 04.02.2016, III R 17/13, BStBl II 2016, 612, ausführlich dazu s § 65 Rn 91ff (Pust).
Aufgrund der Rspr des EuGH besteht die Möglichkeit, dass der Kindergeldberechtigte nicht über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland verfügt. Die Fiktion des Art 60 Abs 1 S 2 der VO (EG) Nr 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62ff EStG nicht dem in Deutschland, sondern dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (EuGH v 22.10.2015, C-378/14, BFH/NV 2015, 1789 (Trapkowski); BFH v 01.07.2020, III R 39/18, BFH/NV 2021, 451; BFH v 18.02.2021, III R 2/20, BFH/NV 2021, 1105. Art 60 Abs 1 S 2 VO (EG) Nr 987/2009 ist nach dem Urteil des EuGH v 18.09.2019, C-32/18, DStR 2020, 1210 (Moser) dahin auszulegen, dass er auch in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird, BFH v 01.07.2020, III R 22/19, BStBl II 2021, 134. Die Fiktionswirkung des Art 60 Abs 1 S 2 der VO (EG) Nr 987/2009 kommt dabei grundsätzlich für alle "beteiligten Personen" iSd Bestimmung zur Geltung, BFH v 27.07.2017, III R 17/16, BFH/NV 2018, 201. Kann wegen der – nicht nur räumlichen – Trennung der Eltern nicht fingiert werden, dass diese in Deutschland in einem gemeinsamen Haushalt leben, ist nach § 64 Abs 2 S 1 EStG der Elternteil kindergeldberechtigt, der das Kind – im Ausland – in seinem Haushalt aufgenommen hat, BFH v 04.02.2016, III R 17/13, BStBl II 2016, 612; BFH v 28.04.2016, III R 68/13, BStBl II 2016, 776; BFH v 10.03.2016, III R 8/13, BFH/NV 2016, 1164 zu einem im EU-Ausland lebenden geschiedenen Elternteil. Entsprechendes gilt für einen in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Großelternteil, BFH v 10.03.2016, III R 62/12, BStBl II 2016, 616, sowie für einen im anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Pflegeelternteil, BFH v 15.06.2016, III R 60/12, BStBl II 2016, 889. 201. Die Antragsberechtigung im Festsetzungsverfahren kann nicht übertragen werden, BFH v 23.08.2016, V R 19/15, BStBl II 2016, 958.
Die unionsrechtliche Familienbetrachtung gilt jedoch auch im Verfahrensrecht, BFH v 31.08.2021, III R 10/20, BStBl II 2022, 186. Ist ein Kindergeldantrag von einem im Inland lebenden, jedoch nur nachrangig berechtigten Elternteil gestellt worden, hemmt dieser Antrag zugunsten des anderen, im EU/EWR-Ausland lebenden vorrangig anspruchsberechtigten Elternteils, der zunächst keinen eigenen Kindergeldantrag gestellt hat, den Ablauf der Festsetzungsfrist.
Ausführlich zur vorrangigen Geltung der Prioritätsregelung der VO (EG) Nr 884/2004 gegenüber § 65 EStG s § 65 Rn 11 (Pust).
Rn. 52
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Staatsangehörige von Drittstaaten, die nicht unmittelbar unter die Regelungen der VO (EG) Nr 883/2004 und der VO (EG) Nr 987/2009 fallen, werden durch die VO (EU) Nr 1231/2010 grds in den Anwendungsbereich der VO (EG) Nr 883/2004 sowie der VO (EG) Nr 987/2004 einbezogen, sofern sie sich rechtmäßig in der Union aufhalten; dies gilt jedoch nicht im Verhältnis zu Dänemark, zu den EWR-Staaten und zur Schweiz (vgl EuGH v 18.11.2010, C-247/09, HFR 2011, 115 (Xhymshiti) zur VO (EG) Nr 883/2004); Selder in Brandis/Heuermann, § 62 EStG Rz 18 (Oktober 2021).