1. Entstehungsgeschichte und Rechtsentwicklung
Rn. 91
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Für den Bereich der EU bzw des EWR ergeben sich für die Ansprüche auf kindbezogene Leistungen gemeinschaftsrechtliche Kollisionsvorschriften, die den Anwendungsvorrang vor § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG haben. Seit dem 01.05.2010 gelten insoweit für den Bereich der EU die VO (EG) Nr 883/2004 v 29.04.2004 (ABl EG 2004 Nr L 166/1) sowie als DurchführungsVO die VO (EG) Nr 987/2009 v 16.09.2009 (ABl EG 2009 Nr L 284/1) (DVO), die gemäß Art 97 S 2 DVO am 01.05.2010 in Kraft getreten ist. Die vorgenannten Regelungen sind an die Stelle der VO (EWG) Nr 1408/71 v 14.06.1971 (ABl EG 1971 Nr L 149/1) und der DurchführungsVO VO (EWG) Nr 574/72 v 21.03.1972 (ABl EG 1972 Nr L 74/1) getreten. Die VO (EWG) Nr 1408/71 ist gemäß Art 90 Abs 1 VO (EG) 883/2004 aufgehoben, seit die Nachfolgeregelung in Gestalt der VO (EG) 883/2004 anzuwenden ist. Die VO (EG) Nr 883/2004 hat nachfolgend mehrfach Änderungen erfahren, zuletzt mWv 01.01.2014 durch die VO (EU) Nr 1372/2013 der Kommission v 19.12.2013 zur Änderung der VO (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der VO (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) Nr 883/2004.
2. Räumlicher Geltungsbereich
Rn. 92
Stand: EL 156 – ET: 02/2022
Im Verhältnis zu Island, Liechtenstein und Norwegen findet die VO (EG) Nr 883/2004 aufgrund des Beschlusses des gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr 76/2011 v 01.07.2011, ABlEU Nr L 262 v 06.10.2011, 33ff seit dem 01.06.2012 Anwendung; Selder in Brandis/Heuermann, § 65 EStG Rz 18 (Mai 2020), da sie in den Geltungsbereich des EWR-Vertrages einbezogen worden ist.
Im Verhältnis zur Schweiz gilt die VO (EG) Nr 883/2004 seit dem 01.04.2012 aufgrund des Abkommens zwischen der EG und der Schweiz über die Freizügigkeit v 21.06.1999, (BGBl II 2001, 811), Art 90 Abs 1 S 2 Buchst c VO 883/2004/EG iVm dem Beschluss Nr 1/2012 des gemischten Ausschusses EU-Schweiz v 31.03.2012, AblEU Nr L 103 v 13.04.2012, 51ff. Vor diesem Zeitpunkt galten noch die VO (EWG) Nr 1408/71 sowie die VO (EWG) Nr 574/72 (vgl DA 65.2 Abs 2 S 6 DA-FamEStG; BStBl I 2012, 734 unzutreffend insoweit BFH v 11.03.2011, III B 76/10, BFH/NV 2011, 981).
3. Persönlicher Geltungsbereich
Rn. 93
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Der persönliche Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 ergibt sich aus Art 2 der genannten VO. Die VO gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedsstaats, Staatenlose, Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedsstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Dem Geltungsbereich der VO (EG) Nr 883/2004 unterfallen gemäß Art 2 Abs 1 VO (EG) Nr 883/2004 auch Flüchtlinge und Staatenlose. Dies gilt auch für Familienangehörige und Hinterbliebene von im Geltungsbereich der Verordnungen wohnenden anerkannten Flüchtlingen und Staatenlosen. Anders als noch unter der Geltung der VO (EWG) 1408/71 ist hingegen nunmehr nicht erforderlich, dass die betreffende Person in das Sozialversicherungssystem eines der Mitgliedsstatten eingebunden ist, Selder in Brandis/Heuermann, § 65 EStG Rz 22 (Mai 2020).
Rn. 94
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In Bezug auf Staatsangehörige von Drittstaaten, die nicht unter die vorgenannten Regelungen fallen, gilt, dass diese Staatsangehörige zwar grds durch die VO 1231/2010/EU v 24.11.2010 zur Ausdehnung der VO (EG) Nr 883/2004 und der VO (EG) Nr 987/2009 auf Drittstaatsangehörige, die ausschließlich aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht bereits unter diese VO fallen (ABlEU Nr L 344 v 29.12.2010, 1ff), in den Anwendungsbereich des VO (EG) Nr 883/2004 und der VO (EG) Nr 987/2009 einbezogen worden sind. Dies gilt jedoch nicht im Verhältnis zu Dänemark, zum Vereinigten Königreich, zum EWR (Liechtenstein, Norwegen, Island) und zur Schweiz (vgl EuGH v 18.11.2010, C-247/09, HFR 2011, 115 – Xhymshiti –, zur Vorgänger-VO (EG) Nr 859/2003; FG BdW v 17.02.2011, 3 K 4694/10, EFG 2011, 1266; Selder in Brandis/Heuermann, § 65 EStG Rz 19 (Mai 2020).
4. Sachlicher Geltungsbereich
Rn. 95
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Der sachliche Geltungsbereich der VO (EG) Nr 883/2004, der sich aus Art 3 Abs 1 Buchst j der VO (EG) Nr 883/2004 ergibt, betrifft auch das Kindergeld nach dem X. Abschn des EStG als Familienleistung, vgl BVerfG v 08.06.2004, 2 BvL 5/00, BFH/NV 2005 Beilage 1, 33; BFH v 13.08.2002, VIII R 97/01, BStBl II 2002, 869, jeweils zu Art 4 Abs 1 Buchst h VO (EWG) Nr 1408/71. Art 1 Buchst z VO (EG) Nr 883/2004 bestimmt, dass Familienleistungen iSd Art 3 Abs 1 Buchst j VO (EWG) Nr 883/2004 alle Sach- und Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen sind. Die Mitgliedsstaaten notifizieren der Kommission nach Art 9 VO (EG) Nr 883/2004 die Rechtsvorschriften, Systeme und Regelungen iSd Art 1 Buchst l VO (EG) Nr 883/2004; dies betrifft auch die Familienleistungen. Die jährlich zu übermittelnden Notifizierungen sind von der Kommission im Amts...