A. Allgemeines
Rn. 210
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Da die Änderungs- und Berichtigungsvorschriften der AO nicht auf Dauer-VA wie die Kindergeldfestsetzung zugeschnitten sind, hat der Gesetzgeber mit § 70 Abs 3 EStG, eingefügt durch das JStErgG 1996, eine eigenständige Änderungsvorschrift geschaffen. Es sollte vermieden werden, dass die Familienkasse für die Zukunft an eine als fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden bleibt, vgl BT-Drucks 13/3084, 21. Insoweit werden die Änderungsvorschriften der AO nur ergänzt, BFH BStBl II 2002, 81.
Die Aufhebung oder Änderung der Festsetzung kann nur für die Zukunft erfolgen, BFH vom 25.02.2003, VIII R 98/01, DStRE 2003, 949; BFH vom 28.06.2006, III R 13/06, BStBl II 2007, 714; V 22.2 S 2 DA-KG 2023.
Auf Bescheide, durch die die Kindergeldfestsetzung aufgehoben oder abgelehnt wird, findet § 70 Abs 3 EStG keine Anwendung, BFH vom 21.01.2004, VIII R 15/02, BFH/NV 2004, 910 unter 6.a.; BFH vom 28.06.2006, III R 13/06, BStBl II 2007, 714.
Durch § 70 Abs 3 EStG werden die Kindergeldberechtigten im Vergleich zum vormaligen Recht verfahrensrechtlich erheblich schlechter gestellt. Nach § 45 SGB X war die Rücknahme rechtswidriger begünstigender VA nicht möglich, soweit der Begünstigte auf den Bestand des VA vertraut hat. Dagegen wird der Vertrauensschutz bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 70 Abs 3 S 1 EStG nach § 70 Abs 3 S 2 EStG nur iRd § 176 AO berücksichtigt. Durch § 70 Abs 3 EStG wird § 173 Abs 1 Nr 1 AO nicht verdrängt, BFH vom 26.07.2001, VI R 163/00, BStBl II 2002, 174.
B. Korrektur materieller Fehler der letzten Festsetzung; Korrekturzeitraum (§ 70 Abs 3 S 1 EStG)
Rn. 211
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Die Regelung betrifft die Korrektur von Kindergeldfestsetzungen, die von Anfang an objektiv rechtswidrig gewesen sind. Unerheblich ist, ob die rechtswidrige Kindergeldfestsetzung auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung oder einer unzutreffenden Sachverhaltserkenntnis beruht, vgl V 22.1 Abs 1 S 1 DA-KG 2023; Weber-grellet in Schmidt, § 70 EStG Rz 7 (42. Aufl). Materielle Fehler sind solche iSd § 177 Abs 3 AO.
Zu den Fällen, in denen die unzutreffende Sachverhaltserkenntnis der Familienkasse auf einer Täuschung durch den vermeintlich Kindergeldberechtigten beruht, s Rn 283.
Rn. 212
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
§ 70 Abs 3 EStG findet nur auf positive Kindergeldfestsetzungen Anwendung, BFH vom 09.06.2011, III R 54/09, BFH/NV 2011, 1858: aA Weber-Grellet in Schmidt, § 70 EStG Rz 7 (42. Aufl); Wendl in H/H/R, § 70 EStG Rz 16 (April 2020); Felix, FR 2001, 674; ausführlich dazu s Rn 215.
Rn. 213
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Auf die Fälle der sog Nullfestsetzung des Kindergelds findet § 70 Abs 3 EStG keine Anwendung, da der Nullfestsetzung keine Rechtswirkung für die Zukunft zukommt, vgl BFH vom 25.07.2001, VI R 164/98, BStBl II 2002, 89; BFH vom 25.07.2001, VI R 78/98, BStBl II 2002, 88; aA Felix, FR 2001, 674. Gleiches gilt für einen Ablehnungsbescheid sowie einen Aufhebungsbescheid, BFH vom 09.06.2011, III R 54/09, BFH/NV 2011, 1858; Selder in Brandis/Heuermann, § 70 EStG Rz 40 (Oktober 2021).
In den genannten Fällen ist eine zu Gunsten des Berechtigten geänderte Kindergeldfestsetzung oder Neufestsetzung somit bereits rückwirkend ab dem auf die Bekanntgabe der Nullfestsetzung, des Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheids folgenden Monats möglich, vgl BFH vom 25.07.2001, VI R 164/98, BStBl II 2002, 89; BFH vom 25.07.2001, VI R 78/98, BFH/NV 2001, 1652. Dies betrifft vor allem auch die Fälle, in denen gegen den Berechtigten deshalb ein Ablehnungs- oder ein Aufhebungsbescheid ergangen ist, weil er seine Mitwirkungspflichten verletzt und den Sachverhalt nicht vollständig mitgeteilt hat.
Rn. 214
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Fraglich ist, ob § 70 Abs 3 EStG in den Fällen zu Gunsten des Berechtigten Anwendung findet, in denen die Familienkasse das Kindergeld für ein Kind zu niedrig festgesetzt hat. Das dürfte zu verneinen sein, obwohl auch in diesen Fällen die Festsetzung des zutreffenden Kindergelds zu erfolgen hat. Hat die Familienkasse das Kindergeld zu niedrig festgesetzt, zB
- weil es ein älteres Kind zu Unrecht nicht als Zählkind berücksichtigt hat oder
- weil es zu Unrecht angenommen hat, das fragliche Kind habe seinen Wohnsitz nicht in Deutschland, sondern zB in der Türkei, sodass nur ein Anspruch auf das geringere Vertragskindergeld gegeben sei,
liegen insoweit jeweils Teilablehnungsbescheide vor, als die Festsetzung des höheren Kindergelds ausdrücklich beantragt war, so auch Wendl in H/H/R, § 70 EStG Rz 16 (April 2020).
Rn. 215
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
Ist bei gänzlicher Ablehnung der Kindergeldfestsetzung oder deren Aufhebung eine Neufestsetzung rückwirkend ab dem auf die Bekanntgabe der Nullfestsetzung, des Ablehnungs- oder Aufhebungsbescheids folgenden Monats möglich, vgl BFH vom 25.07.2001, VI R 78/98, BStBl II 2002, 88; BFH vom 25.07.2001, VI R 164/98, BStBl II 2002, 89, so müsste Entsprechendes auch für die teilweise Ablehnung bzw teilweise Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung gelten. Es ist nicht ersichtlich, aus welchem Grunde derartigen Bescheiden, in denen das Kindergeld zu Unrecht zu niedrig...