Rn. 16
Stand: EL 161 – ET: 11/2022
Die Vorschrift erscheint verfassungsrechtlich in verschiedener Hinsicht nicht unbedenklich. Die vorläufige Einstellung der Zahlung des Kindergeldes erfolgt, obwohl die Festsetzung des Kindergeldes in diesem Zeitpunkt (noch) nicht aufgehoben worden ist. Dies bedarf besonderer Rechtfertigung, da in diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht, ob es nachfolgend tatsächlich zu einer Aufhebung oder Änderung des Kindergeldbescheids kommen wird. Zwar setzt § 71 Abs 1 Nr 1 EStG die Kenntnis der Familienkasse von Tatsachen voraus, die zum Wegfall des Kindergeldanspruchs führen, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sich diese erste Einschätzung von der Familienkasse nicht als zutreffend erweist, so dass es zu einer Nachzahlung des Kindergeldes kommen kann, wie sich aus § 71 Abs 3 EStG ergibt.
Ferner wird es auch in Fällen, in denen die Familienkasse innerhalb von 2 Monaten nach der vorläufigen Einstellung der Zahlung des Kindergeldes die Kindergeldfestsetzung mit Wirkung für die Vergangenheit aufhebt oder ändert, dazu kommen, dass die Aufhebung oder die Änderung der Kindergeldfestsetzung im Einspruchs- oder im Klageverfahren aufgehoben wird.
Schließlich führt die Aufhebung oder Änderung der Kindergeldfestsetzung mit Wirkung für die Vergangenheit nicht zwangsläufig dazu, dass auch zum Zeitpunkt der vorläufigen Einstellung der Zahlung des Kindergeldes kein Kindergeldanspruch mehr gegeben ist. Dass ein bestimmter Berücksichtigungstatbestand in der Vergangenheit (vorübergehend) nicht mehr vorgelegen hat, lässt eine sichere Aussage dazu, dass dieser Berücksichtigungstatbestand auch gegenwärtig nicht gegeben ist, nur begrenzt zu, wie insbesondere die Fälle des Abbruchs eines Ausbildungsverhältnisses mit nachfolgendem Beginn eines anderen Ausbildungsverhältnisses belegen. Aufgrund der Rechtsnatur des Kindergeldes, das das BVerfG als Sozialleistung beurteilt hat, besteht die Gefahr, dass in den Fällen, in denen das Existenzminimum des Kindes ganz oder teilweise durch staatliche Leistungen gewährleistet wird, zB durch das Kindergeld nach dem EStG und weitere (Sozial-)Leistungen, bei einer vorläufigen Einstellung der Zahlung des Kindergeldes das verfassungsrechtliche Existenzminimum des Kindes vorübergehend nicht gewährleistet ist. Ob die Träger der nachrangigen Sozialleistungen entsprechende erhöhte Leistungen erbringen, solange die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung noch nicht aufgehoben, sondern die Zahlung des Kindergeldes nur vorläufig eingestellt hat, erscheint fraglich. Allerdings wird in den Fällen, in denen die Familienklasse Kenntnis von Tatsachen iSd § 71 Abs 1 EStG erlangt, regelmäßig ein Verstoß des Kindergeldberechtigten gegen Mitwirkungspflichten nach § 68 Abs 1 EStG gegeben sein. Nach den Ausführungen des BVerfG v 05.11.2019, 1 BvL 7/16, NJW 2019, 3703 zur Verfassungsmäßigkeit der Minderung staatlicher Leistungen zur Existenzsicherung, insbesondere zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten, dürfte § 71 EStG nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen
Verfassungsrechtlich nicht unproblematisch erscheint, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten des Kindergeldberechtigten gegen die vorläufige Einstellung der Zahlung des Kindergeldes deshalb stark eingeschränkt sind, weil diese Maßnahme nicht durch einen Bescheid erfolgt. Da jedoch noch die Möglichkeit der Rechtschutzgewährung durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 114 FGO besteht, dürfte das Rechtsstaatsprinzip nicht verletzt sein.