A. Aufrechnung
Rn. 10
Stand: EL 172 – ET: 04/2024
§ 75 EStG enthält keine Definition der darin geregelten Aufrechnung, bei der es sich um die wechselseitige Tilgung zweier sich gegenüberstehender gleichartiger Ansprüche durch Verrechnung aufgrund einseitiger empfangsbedürftiger Willenserklärung eines der Beteiligten handelt, Loose in Tipke/Kruse, § 226 AO Rz 1 (Februar 2019). Da es sich bei dem Kindergeld um eine Steuervergütung (§ 31 S 3 EStG) und damit um einen Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) handelt (Loose in Tipke/Kruse, § 226 AO Rz 4 (Februar 2019)), bedurfte es einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den mithin anwendbaren § 226 AO und die danach geltenden § § 387ff BGB nicht. Nach diesen Vorschriften setzt die Aufrechnung Gegenseitigkeit, Gleichartigkeit, Fälligkeit und Erfüllbarkeit der gegenseitigen Forderungen voraus.
Die Gläubigerfiktion des § 226 Abs 4 AO iVm § 5 Abs 1 Nr 11 S 9 FVG idF des JStG 2022 findet Anwendung, vgl Selder in Brandis/Heuermann, § 75 EStG Rz 10 (Oktober 2021).
Bei der Aufrechnungserklärung handelt es sich um eine formfreie zugangsbedürftige Willenserklärung der Familienkasse, nicht um einen VA, BFH vom 02.04.1987, VII R 148/83, BStBl II 1987, 536; BFH vom 04.02.1997, VII R 50/96, BStBl II 1997, 479; Wendl in H/H/R, § 75 EStG Rz 6 (Juni 2020). Einer Bekanntgabe gemäß § 122 AO bedarf es nicht, BFH vom 29.11.2012, VII B 88/12, BFH/NV 2013, 508.
B. Die gesetzlich definierte Aufrechnungslage
1. Gegenseitigkeit der Ansprüche
a) Familienkasse auf der einen Seite
Rn. 11
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Gegenseitigkeit setzt die Identität von Schuldner und Gläubiger voraus. Das bedeutet, dass der Anspruch und der Gegenanspruch zwischen denselben Personen bestehen müssen – der Schuldner des einen muss also zugleich Gläubiger des anderen Anspruchs sein, Loose in Tipke/Kruse, § 226 AO Rz 14 (Februar 2019). Unter dieser Prämisse definiert § 75 EStG die Aufrechnungsbefugnis der Familienkassen (Arbeitsagenturen, § 70 Abs 1 S 1 EStG) oder der juristischen Personen des öffentlichen Rechts (§ 72 Abs 1 S 2 EStG).
Rn. 12
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Ein Wechsel der Zuständigkeit von der einen auf eine andere Familienkasse tangiert die Aufrechnungsbefugnis nicht. Aufgrund von § 226 Abs 4 AO bestehen gegen die Identität von Schuldner und Gläubiger bei einem Zuständigkeitswechsel der Familienkassen keine Bedenken, Janda in K/S/M, § 75 EStG Rz B 8 (Juni 2022).
b) Kindergeldberechtigter auf der anderen Seite
Rn. 13
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Auch in Bezug auf die Erstattungsverpflichtung (Schuldner) und den Kindergeldanspruch (Gläubiger) ist für die Aufrechnung nach § 75 Abs 1 EStG Personenidentität erforderlich. Das ist nur und solange der Fall, als der zur Rückzahlung Verpflichtete zugleich der Kindergeldberechtigte ist. Mit dem Eintritt eines Berechtigtenwechsels nach § 64 EStG wird daher auch die Aufrechnungslage beendet, aber s Rn 7.
Rn. 14–20
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vorläufig frei
2. Gleichartigkeit der Ansprüche
Rn. 21
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Das Merkmal der Gleichartigkeit ist stets erfüllt, denn dafür genügt es, dass sich Geldansprüche gegenüberstehen, Loose in Tipke/Kruse, § 226 AO Rz 30, 31 (Februar 2019).
Rn. 22
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§ 75 Abs 1 EStG betrifft nur die Aufrechnung von Ansprüchen auf Erstattung von Kindergeld gegen Ansprüche auf Kindergeld (§ 75 Abs 1 EStG) bzw einen späteren Kindergeldanspruch des mit dem Erstattungspflichtigen in Haushaltsgemeinschaft lebenden Berechtigten (§ 75 Abs 2 EStG). Ein Anspruch der Familienkasse auf Erstattung (§ 37 Abs 2 AO) von Kindergeld besteht, wenn die Auszahlung von Kindergeld ohne Rechtsgrund erfolgt ist, zB weil der Auszahlung keine Kindergeldfestsetzung zugrunde gelegen hat, oder die der Auszahlung zugrundeliegende Kindergeldfestsetzung aufgehoben oder geändert worden ist (Selder in Brandis/Heuermann, § 75 EStG Rz 10 (Oktober 2021); dabei ist die formelle Bescheidlage bei der Aufrechnung maßgebend, BFH 15.06.1999, VII R 3/97, BStBl II 2000, 46.
§ 75 EStG findet auch auf den sog Kinderbonus (2020, 2021, 2022) Anwendung, (BZSt vom 06.08.2020, BStBl I 2020, 657; BZSt vom 17.03.2021, BStBl I 2021, 359; BZSt vom 27.05.2022, BStBl I 2022, 894). Die Familienkasse kann sowohl mit Ansprüchen auf Erstattung von Kindergeld gegen Ansprüche des Kindergeldberechtigten auf den Kinderbonus aufrechnen, als auch mit Ansprüchen auf Erstattung des Kinderbonus gegen Ansprüche des Kindergeldberechtigten auf Kindergeld.
Für die Aufrechnung eines Erstattungsanspruchs wegen überzahlten Kindergelds gegen andere von der Familienkasse verwaltete Ansprüche – zB Besoldungs-, Vergütungs-, Versorgungs- und Lohnansprüche (V 28.1 Abs 1 S 4 DA-KG 2023) – gelten nach § 226 Abs 1 AO unter Beachtung der allg Pfändungsfreigrenzen die § § 387ff BGB entsprechend.
Eine Aufrechnung ist erst mit einem fällig gewordenen Erstattungsanspruch zulässig, dh nach Ablauf der Zahlungsfrist (vgl V 23.1 Abs 2 S 5, V 28.1 Abs 4 S 3 DA-KG 2023); noch nicht entstandene, künftige Ansprüche sind nicht erfüllbar, BFH vom 07.04.2011, III R 88/09, BFH/NV 2011, 1326.
Erfolgt die Aufrechnung vor Fälligkeit der Kindergeldforderung, ist die Aufrechnung unwirksam; die Unwirksamkeit wird auch nicht dadurch ...