1. BVerfG v 19.11.2019

 

Rn. 1020

Stand: EL 161 – ET: 11/2022

Das BVerfG hat mit Beschluss v 19.11.2019 (BVerfG 2 BvL 22/14, 2 BvL 23/14, 2 BvL 24/14, 2 BvL 25/14, 2 BvL 26/14, 2 BvL 27/14, BFH/NV 2020, 334) entschieden, dass der Ausschluss des WK-Abzugs für Berufsausbildungskosten gemäß § 9 Abs 6 EStG idF BeitrRLUmsG sowie die Begrenzung des Sonderausgaben-Abzugs für Berufsbildungsaufwendungen (§ 10 Abs 1 Nr 7 EStG) verfassungsgemäß sind. Danach gibt es für die Regelung sachlich einleuchtende Gründe. Der Gesetzgeber durfte deshalb solche Aufwendungen als privat (mit-)veranlasst qualifizieren und den Sonderausgaben zuordnen. Denn die Erstausbildung oder das Erststudium unmittelbar nach dem Schulabschluss vermittele nicht nur Berufswissen, sondern präge die Person in einem umfassenderen Sinne, indem sie die Möglichkeit biete, sich seinen Begabungen und Fähigkeiten entsprechend zu entwickeln und allgemeine Kompetenzen zu erwerben, die nicht zwangsläufig für einen künftigen konkreten Beruf notwendig seien. Erstausbildung oder Erststudium wiesen so eine besondere Nähe zur Persönlichkeitsentwicklung auf. Dagegen sei der objektive Zusammenhang mit einem konkreten späteren Beruf gering ausgeprägt.

Auch die Begrenzung des Sonderausgaben-Abzugs für Erstausbildungskosten auf einen Höchstbetrag von mittlerweile 6 000 EUR (s § 10 Abs 1 Nr 7 EStG) ist danach verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (auch s § 10 Rn 324, 349 (Hoheisel/Tippelhofer)).

2. Rückwirkendes In-Kraft-Treten von § 9 Abs 6 EStG idF BeitrRLUmsG

 

Rn. 1021

Stand: EL 161 – ET: 11/2022

§ 9 Abs 6 EStG idF BeitrRLUmsG ist gemäß § 52 Abs 23 d S 5 EStG ab dem VZ 2004 anzuwenden; Gleiches gilt gemäß § 52 Abs 12 S 11 EStG für § 4 Ab 9 EStG. Bei dem rückwirkenden In-Kraft-Treten kann zwischen folgenden Zeiträumen unterschieden werden:

(1) 01.01.2004–21.07.2004: echte Rückwirkung und zudem Ergänzung des seinerzeit selbst rückwirkend in Kraft getretenen § 12 Nr 5 EStG
(2) 22.07.2004–VZ 2010: echte Rückwirkung
(3) 01.01.2011–28.07.2011: unechte Rückwirkung
(4) 28.07.2011–07. bzw 14.12.2011: unechte Rückwirkung, aber möglicherweise Vertrauensschutz aufgrund der BFH-Urteile.

Nach der Rspr des BVerfG sind rückwirkende Gesetze grundsätzlich verfassungswidrig, wenn sie eine sog echte Rückwirkung (bzw Rückbewirkung von Rechtsfolgen) beinhalten. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG entspringende Gebot der Rechtssicherheit lässt es regelmäßig nicht zu, dass der Bürger durch die rückwirkende Beseitigung erworbener Rechte über die Verlässlichkeit der Rechtsordnung getäuscht wird. Er soll die ihm gegenüber möglichen staatlichen Eingriffe voraussehen können, sich dementsprechend einrichten und darauf vertrauen dürfen, dass sein dem jeweils geltenden Recht entsprechendes Verhalten auch weiterhin von der Rechtsordnung als rechtmäßig anerkannt bleibt (BVerfG v 08.06.1977, 2 BvR 499/74, 2 BvR 1042/75, BVerfGE 45, 142 (167f); BVerfG v 07.07.2010, 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1; BVerfG v 07.07.2010, 2 BvL 1/03, 2 BvL 57/06, 2 BvL 58/06, BVerfGE 127, 31; BVerfG v 07.07.2010, 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BVerfGE 127, 61).

Das BVerfG erkennt jedoch auch Ausnahmen von dem Verbot der Rückbewirkung von Rechtsfolgen an. So ist ein rückwirkendes Gesetz dann zulässig,

  • wenn sich kein schützenswertes Vertrauen des Bürgers auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte, weil die Rechtslage unklar und verworren oder lückenhaft war und durch eine eindeutige Regelung ersetzt wird (BVerfG v 19.12.1961, 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (272); BVerfG v 23.03.1971, 2 BvL 2/66, 2 BvR 168/66, 2 BvR 196/66, 2 BvR 197/66, 2 BvR 210/66, 2 BvR 472/66, BVerfGE 30, 367 (388f) oder
  • wenn der Gesetzgeber die Rechtslage auch mit Wirkung für die Vergangenheit so regelt, wie sie bis zu einer Änderung der höchstrichterlichen Rspr der allgemeinen Rechtsanwendungspraxis entsprach (Nichtannahmebeschluss des BVerfG v 15.10.2008, 1 BvR 1138/06).

Danach dürfte in den Zeiträumen (1) und (2) und erst recht in (3) die Rückwirkung verfassungsrechtlich zulässig sein. Die Regelungsabsicht, die der Gesetzgeber mit § 12 Nr 5 EStG aF verfolgte, war aus dem Gesetzgebungswortlaut und den Gesetzgebungsmaterialien eindeutig zu erkennen; auch in Literatur und Rspr war unumstritten, dass es dem Gesetzgeber um den WK-Ausschluss für Kosten der beruflichen Erstausbildung ging. Ein Vertrauen des Bürgers in die Annahme, er könne die Kosten seiner beruflichen Erstausbildung steuerlich geltend machen, konnte von daher nicht begründet werden. Damit liegt die vom BVerfG als Ausnahme vom Rückwirkungsverbot anerkannte Fallgestaltung vor, dass das geltende Recht lückenhaft war und durch eine eindeutige Regelung ersetzt wurde. Der Gesetzgeber sieht in den §§ 4 Abs 9, 9 Abs 6 EStG dementsprechend auch nur eine Klarstellung der gesetzgeberischen Absicht (BT-Drucks 27/7524, 12ff). Für den Zeitraum (1) ergibt sich die Zulässigkeit zudem daraus, dass auch § 12 Nr 5 EStG auf eine Änderung der höchstrichterlichen Rspr reagierte und lediglich die bisherige Rspr fortschrieb. Hinzu kommt, dass der BFH im Zeit...

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