Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach einem ersten diesbezüglichen Hinweis, der 28 Monate zurückliegt. Verfassungsmäßigkeit der Abschläge bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Es bedarf keines erneuten Hinweises des Sozialgerichts auf seine Absicht, durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen, nur weil seit dem ersten Hinweis ein erheblicher Zeitraum (hier: 28 Monate) verstrichen ist.
Orientierungssatz
Die Regelungen des § 77 Abs 2 S 1 Nr 3 bzw S 2 SGB 6 sind verfassungsgemäß (vgl BVerfG vom 11.1.2011 - 1 BvR 3588/08 ua = BVerfGE 128, 138 = SozR 4-2600 § 77 Nr 9).
Normenkette
SGB VI §§ 63, 77 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, S. 2, § 264d; SGG § 96 Abs. 1, § 105 Abs. 1 Sätze 1-2, § 159 Abs. 1 Nr. 2, § 202 S. 2; ZPO § 522 Abs. 2 S. 1; GVG § 198; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Kürzung des Zugangsfaktors seiner Erwerbsminderungsrente.
Der Kläger ist am 1965 geboren. Er beantragte am 7. Mai 2010 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 9. September 2010 Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 1. Oktober 2010 bis zum 31. August 2012 in Höhe von monatlich netto € 493,91. Sie legte der Rentenberechnung einen Zugangsfaktor von 0,892 (1,0 abzüglich 36 Monaten à 0,003) zugrunde. Mit Bescheiden vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 bewilligte die Beklagte die Weitergewährung der Rente bis zum 31. Dezember 2013, bis zum 31. Dezember 2014 bzw. bis zum 31. Dezember 2015, zuletzt in Höhe von monatlich netto € 515,48.
Am 24. September 2010 beantragte die Stadt K. die Überprüfung der Rentenbewilligung hinsichtlich der Minderung des Zugangsfaktors. Die Beklagte legte diesen Antrag als Antrag des Klägers auf Zahlung einer abschlagsfreien Rente aus und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 4. November 2011 unter Hinweis auf die gesetzlichen Regelungen und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09 - in juris) ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 1. Dezember 2011 Widerspruch. Er widerspreche der Meinung des BVerfG. In seinem Fall verstoße die Minderung des Zugangsfaktors gegen das Grundgesetz, da die Würde des Menschen unantastbar sei. Vor Zuerkennung der Erwerbsminderungsrente habe er “Hartz IV„-Leistungen in Höhe von ca. € 680,00 zur Verfügung gehabt. Von der Erwerbsminderungsrente verblieben ihm netto nur € 492,00. Die Differenz seiner Rente gegenüber den “Hartz IV„-Leistungen belaste ihn übermäßig. Die Minderung des Zugangsfaktors habe hieran sicherlich einen Anteil. Das BVerfG möge in seiner Berechnung von höheren Renten ausgegangen sein. Bei einer zu erwartenden Erwerbsminderungsrente von bis zu € 2.000,00 und höher sei eine Kürzung eventuell als zumutbar zu bezeichnen. Er hingegen sei gezwungen, ergänzende Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Zu beachten sei auch, dass die Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente bezögen, diese Rente bekämen, weil sie nicht mehr arbeiten könnten. Es sei nicht ihre freie Entscheidung.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 zurück. Zur Begründung wurde wiederum auf die gesetzlichen Regelungen und den Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2011 verwiesen.
Am 13. Juni 2012 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG). Unter Verweis auf seine bisherigen Ausführungen trug er vertiefend vor, die Kürzung einer geringen Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht zumutbar und nicht zulässig, wenn die Rente dadurch unter das Sozialhilfeniveau sinke. Die Kürzung verstoße gegen das Grundgesetz, das jedem Menschen die Unantastbarkeit der Würde zusage. Die Kürzung einer ohnehin schon geringen Erwerbsminderungsrente verletze die Würde, wenn dadurch deutlich höhere Rentenzahlungen an Altersrentner sichergestellt werden sollten. Zumutbar sei eine Deckelung aller Renten auf ein lebenssicherndes Niveau, das allen Menschen ein menschenwürdiges Leben sichere. Die Kürzung von Erwerbsminderungsrenten unter das Sozialhilfeniveau sei aber auch wirtschaftlich nicht sehr effektiv, weil die Differenz zu ungekürzten Renten nun von Städten und Gemeinden getragen werden müsste. Er frage sich, ob sich dann noch die Verletzung der Würde von Menschen lohne, die durch ihre frühe Erwerbsunfähigkeit ohnehin schon unverschuldet Opfer bringen müssten. Denn es sei ja nicht nur die Erwerbsfähigkeit gemindert, sondern auch die Lebensqualität.
Die Beklagte trat der Klage unter Hinweis auf ihren Widerspruchsbescheid entgegen.
Nachdem das SG die Beteiligten mit Verfügung vom 15. August 2012 - dem Kläger am folgenden Tag zugestellt - auf die Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hingewiesen hat...