Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachholen der Ermessensbetätigung im sozialgerichtlichen Verfahren
Leitsatz (amtlich)
1. § 49 SGB 10 greift nicht ein, wenn ein begünstigender Verwaltungsakt nicht im Zusammenhang mit einem von einem Dritten angestrengten Widerspruchsverfahren oder sozialgerichtlichen Verfahren aufgehoben wird.
2. Hat die Verwaltung in einem Bescheid nach § 45 SGB 10 kein Ermessen ausgeübt, kann die Ermessensausübung nicht nach § 41 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 2 SGB 10 während des Klageverfahrens nachgeholt werden.
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 5.5.2009 wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Beklagte einen Bescheid zurückgenommen hat, in dem sie die Sozialversicherungsfreiheit der Tätigkeit der Klägerin festgestellt hatte.
Die 1973 geborene Klägerin war seit dem 1.7.1997 für die Beigeladene zu 1, die Firma L, tätig. Ihr Ehemann ist nach ihren Angaben seit 2004 alleiniger Geschäftsführer und Gesellschafter dieses Unternehmens; zuvor waren neben ihm ihre Schwiegermutter und ihr Schwiegervater Gesellschafter (zu jeweils 1/3) und Geschäftsführer gewesen.
Im August 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung der Tätigkeit ab dem 1.1.1998 und gab an: Nach wenigen Monaten der Einarbeitung habe ihr ihre Schwiegermutter, mit der sie sich bis zu diesem Zeitpunkt die kaufmännische Leitung des Unternehmens geteilt habe, umfangreiche mündliche Handlungsvollmachten übertragen. Anfang 1998 habe sich ihre Schwiegermutter immer mehr aus dem Tagesgeschäft zurückgezogen und sie nur noch bei Abwesenheit vertreten. Ihr Schwiegervater und ihr Ehemann hätten völlig andere Aufgabenbereiche gehabt; dies gelte auch jetzt für ihren Ehemann. Sie sei hinsichtlich Zeit, Art und Ort der Tätigkeit weisungsfrei. Strategische Unternehmensentscheidungen treffe sie gemeinsam mit ihrem Ehemann. Sie verzichte aus unternehmerischen Erwägungen regelmäßig auf die Vergütung von Überstunden und nicht genommener Urlaubstage. In einem von der Klägerin und der Beigeladenen zu 1 unterzeichneten Feststellungsbogen wurden ua folgende ergänzende Angaben gemacht: Von dem Arbeitsentgelt in Höhe von 2.600, EUR, das auf ein privates Konto ausgezahlt werde, werde Lohnsteuer entrichtet; es werde als Betriebsausgabe verbucht. Die Tätigkeit werde nicht aufgrund einer arbeitsvertraglichen Vereinbarung ausgeübt.
Durch Bescheid vom 24.8.2006 stellte die Beklagte fest, die Tätigkeit der Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen von Sozialversicherungspflicht aufgrund einer abhängigen Beschäftigung, da das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse nicht für eine solche spreche. Nachdem die Klägerin bei der Beigeladenen zu 2 (Deutsche Rentenversicherung Bund) einen Antrag auf Beitragserstattung gestellt hatte, wandte sich diese mit Schreiben vom 6.11.2006 (eingegangen bei der Beklagten am 13.11.2006) an die Beklagte und vertrat die Auffassung, bei der Klägerin liege ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis vor; es werde gebeten, die Aufhebung des Bescheides vom 24.8.2006 zu prüfen.
Daraufhin nahm die Beklagte durch Bescheid vom 29.11.2006 den Bescheid vom 24.8.2006 zurück. Zur Begründung führte sie an: Der Bescheid vom 24.8.2006 sei rechtswidrig. Die Klägerin stehe seit dem 1.1.1998 in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis zur Beigeladenen zu 1. Dafür sprächen die fehlende Kapitalbeteiligung der Klägerin an der Beigeladenen zu 1, die fehlende Weisungsbefugnis der Klägerin sowie die Nichtübernahme von Bürgschaften und Sicherungen durch die Klägerin zugunsten der Beigeladenen zu 1. Nach § 49 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) genieße die Klägerin keinen Vertrauensschutz auf die Bestandskraft des Bescheides vom 24.8.2006.
Mit ihrem hiergegen eingelegten Widerspruch machte die Klägerin geltend, der Anwendungsbereich des § 49 SGB X wäre nur eröffnet, wenn die Beigeladene zu 2 Klage gegen den Bescheid vom 24.8.2006 erhoben hätte. Im Übrigen sei der Bescheid vom 29.11.2006 wegen fehlender Anhörung rechtswidrig. Bei ihr lägen die Voraussetzungen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nicht vor.
Durch Widerspruchsbescheid vom 7.2.2007 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und legte zur Begründung dar: Das Gesamtbild der Tätigkeit der Klägerin weise auf ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis hin. Gegen die Annahme einer selbstständigen Tätigkeit spreche ua, dass die Klägerin nach den Geburten ihrer Kinder Leistungen nach dem Mutterschaftsgesetz bzw Bundeserziehungsgeldgesetz beantragt und bezogen habe. Eine Stellung als faktische Geschäftsführerin sehe das GmbH-Gesetz nicht vor. Da § 49 SGB X eingreife, könne die Klägerin keinen Vertrauensschutz geltend ma...