EU-rechtlich enthält der AEUV keine allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbräuchen. Solche Regeln sind jedoch in Richtlinien enthalten, gelten dann aber nur für den Bereich der jeweiligen Richtlinie. Nach Art. 15 Abs. 1 Buchst. a der Fusionsrichtlinie[1] ist die Steuerfreiheit einer Umwandlung ganz oder teilweise zu versagen, wenn der hauptsächliche oder einer der hauptsächlichen Beweggründe die Steuerhinterziehung oder -umgehung ist. Das ist der Fall, wenn der Vorgang nicht auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen, insbesondere der Umstrukturierung oder Rationalisierung der beteiligten Gesellschaften, besteht.

Nach Art. 1 Abs. 2-4 der Mutter-Tochter-Richtlinie[2] werden die Vorteile der Richtlinie nicht gewährt, wenn eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vorliegt, deren wesentlicher Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel oder Zweck der Richtlinie zuwiderläuft. Das ist der Fall, wenn die Gestaltung nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wurde, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln. Zusätzlich sind die nationalen Vorschriften zur Verhinderung von Missbräuchen anzuwenden.

Eine vergleichbare Regelung ist in Art. 5 der Zins- und Lizenzrichtlinie enthalten.[3]

Eine allgemeine Vorschrift zur Verhinderung von Missbräuchen enthält Art. 6 ATAD I.[4]

Missbrauch liegt danach vor, wenn eine unangemessene Gestaltung oder eine unangemessene Abfolge von Gestaltungen vorgenommen wird, deren wesentlicher Zweck oder einer der wesentlichen Zwecke darin besteht, einen steuerlichen Vorteil zu erlangen, der dem Ziel und Zweck des geltenden Steuerrechts zuwiderläuft. Unangemessen ist die Gestaltung, wenn sie nicht aus triftigen wirtschaftlichen Gründen vorgenommen wird, die die wirtschaftliche Realität widerspiegeln.

Über diese Richtlinienregeln hinaus hat der EuGH die Missbrauchsregeln erweitert und verallgemeinert.[5]

Danach gilt im EU-Recht zwingend der allgemeine Grundsatz, dass man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das EU-Recht berufen kann. Dieser Grundsatz verbietet die Anerkennung missbräuchlicher Gestaltungen auch dann, wenn entsprechende nationale oder geschriebene EU-rechtliche Bestimmungen fehlen. Missbrauch liegt vor, wenn sich aus der Gesamtheit der relevanten Umstände ergibt, dass die Voraussetzungen der Steuervergünstigung formal zwar erfüllt sind, dass das Ziel der Unionsregelung aber nicht erreicht wird. Das ist insbesondere bei künstlichen, jeder wirtschaftlichen Realität baren Gestaltung der Fall. In diesen Fällen kann sich der Stpfl. auch nicht auf die Grundfreiheiten berufen. Beispiele sind etwa Briefkastenfirmen, Strohfirmen oder Durchleitungsgesellschaften. Hinzu kommen muss als subjektives Element die Absicht, einen Vorteil zu erlangen, indem künstlich die Voraussetzungen der EU-Regelung geschaffen werden. Zum Nachweis des subjektiven Elements können Indizien herangezogen werden, wie etwa die Pflicht, bestimmte Zahlungen weiterleiten zu müssen, oder die von vornherein bestehende Absicht, dies zu tun, oder die dauernde Gewinnlosigkeit. Ob eine reale wirtschaftliche Tätigkeit fehlt, ist anhand aller relevanten Umstände wie Geschäftsführung, Bilanz, Kostenstruktur, tatsächliche Ausgaben, Beschäftigte, Geschäftsräume und Ausstattung der jeweiligen Gesellschaft zu ermitteln.

[1] Vgl. Stichwort "Fusionsrichtlinie".
[2] Vgl. Stichwort "Mutter-Tochter-Richtlinie".
[4] Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates v. 12.7.2016, ABl L 193/1 v. 19.7.2016.
[5] EuGH v. 26.2.2019, C-116/16, C-117/16 (T Danmark, Y Denmark Aps), IStR 2019, 266, Rz. 70ff.

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