Kommentar
Eine Krankenschwester war innerhalb von drei Jahren 600 Tage als arbeitsunfähig krankgeschrieben. Daraufhin wurde von dem Personalleiter der Klinik, bei der sie angestellt war, ein Gesprächstermin mit ihr anberaumt. Kurz vor dem Termin erfuhr der Personalleiter gerüchteweise, daß die Krankenschwester während einer längeren Arbeitsunfähigkeitsperiode in ihrer ausländischen Heimat den Führerschein gemacht hatte. Nachdem die Krankenschwester das zunächst leugnete, dann aber ihren Führerschein vorlegte, der in der Tat ein Ausstellungsdatum trug, das in eine Krankheitszeit fiel, teilte ihr der Personalleiter mit, daß er ihr fristlos kündigen werde, sofern sie nicht einen Vertrag unterschreibe, mit dem das Arbeitsverhältnis sofort aufgelöst werde. Die Krankenschwester unterschrieb und fochte später diesen Vertrag an mit der Begründung, ihr sei unberechtigterweise mit der Kündigung gedroht worden, denn sie habe die Führerscheinprüfung vor ihrer Krankheit in einem Urlaub abgelegt.
Bei der von der Krankenschwester erhobenen Klage war entscheidend, ob das Androhen einer außerordentlichen Kündigung eine „widerrechtliche Drohung” ist, die die Anfechtung des Aufhebungsvertrags ermöglichte. Das BAG hat diese Frage bejaht. Dabei kam es nicht darauf an, ob die Krankenschwester tatsächlich während ihrer bescheinigten Arbeitsunfähigkeit den Führerschein gemacht hatte. Das Gericht machte deutlich, daß der Personalleiter erst noch weitere Nachforschungen hätte anstellen müssen, bevor er eine außerordentliche Kündigung androht und dabei auf noch weitere, schwerwiegendere Tätigkeiten während der Krankschreibung hätte stoßen müssen. Denn die Krankenschwester hatte ja ein ärztliches Attest vorgelegt, und einem solchen kommt ein solch hoher Beweiswert zu, daß nur sehr schwerwiegende und eindeutige Tatsachen dazu geeignet sind, die Richtigkeit des Attests ernsthaft in Zweifel zu ziehen, etwa dann, wenn der Arbeitnehmer während seiner Krankheit eine andere, gleichwertige Arbeit verrichtet. Eine Heimatreise und Führerscheinprüfung reicht dazu nach Ansicht des BAG nicht aus, da beides auch unter Umständen z. B. während der Genesung möglich ist. Die Androhung der außerordentlichen Kündigung vor Kenntnis weiterer Anhaltspunkte war daher eine „völlig überzogene Reaktion”.
Link zur Entscheidung
BAG, Urteil vom 21.03.1996, 2 AZR 543/95