OFD Karlsruhe, Verfügung v. 1.6.2010, S 0351/2
Werden dem FA nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung vom Steuerpflichtigen bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragsteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, gilt Folgendes:
1. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung nach § 173 AO
Die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge stellen neue Tatsachen i.S. des § 173 AO dar, die zur Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO führen, wenn sich durch die Erfassung der Kapitalerträge eine geänderte (höhere) Einkommensteuerschuld ergibt und noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist.
Die Steuerfestsetzung ist auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt (AEAO zu § 173, Nr. 1.4).
2. Anrechnung der Kapitalertragsteuer
Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugsbeträge stellt einen selbständigen Verwaltungsakt („Anrechnungsverfügung”) dar, der im Fall der Rechtswidrigkeit unter den Voraussetzungen der §§ 130 und 131 AO korrigiert werden kann (Karte 1 Tz. 7.1 zu § 218; H 36 – Anrechnung – EStH 2009). Eine Korrektur der Anrechnungsverfügung zur nachträglichen Berücksichtigung von Kapitalertragsteuer ist nur innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist zulässig (BFH-Urteil vom 12.2.2008, BStBl 2008 II S. 504).
Die von Kapitalerträgen einbehaltene Kapitalertragsteuer kann somit innerhalb der Zahlungsverjährungsfrist – durch Korrektur der Anrechnungsverfügung zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 130 Abs. 1 AO – nachträglich berücksichtigt werden. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nur zulässig ist, soweit sie auf die bei der Veranlagung erfassten Einkünfte entfällt. Die nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragsteuer scheidet deshalb aus, wenn nachträglich bekannt gewordene Kapitalerträge wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht mehr der Einkommensteuer unterworfen werden können.
Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen – unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge – den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen – trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte – unverändert bleibt. Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb – bei Vorlage der Steuerbescheinigung – die Kapitalertragsteuer auch in diesen Fällen noch nachträglich angerechnet werden kann.
3. 10-jährige Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)
Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt einen hinterzogenen Betrag im Sinne eines Anspruchs des Fiskus auf eine Abschlusszahlung voraus, der wegen einer vollendeten Steuerhinterziehung bislang nicht realisiert werden konnte (Hinweis auf Karte 1 Tz. 1 zu § 169). Hieran fehlt es, wenn die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende anrechnungsfähige Kapitalertragsteuer den Steuer-Mehrbetrag, der sich bei Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer Einkommensteuerschuld), übersteigt, also auch in Fällen, in denen die Korrektur der Steuerfestsetzung aufgrund der anzurechnenden Kapitalertragsteuer zu einer Steuererstattung führen würde (BFH-Urteil vom 26.2.2008, BStBl 2008 II S. 659). In dieser Fallkonstellation verbleibt es wegen bereits eingetretener Festsetzungsverjährung bei der bisherigen Steuerfestsetzung. Eine Anrechnung der Kapitalertragsteuer kann wegen § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht vorgenommen werden.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 1