Leitsatz
1. Die Frist nach § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 ist gewahrt, wenn der Steuerbescheid vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Bereich der für die Steuerfestsetzung zuständigen Finanzbehörde verlassen und die Finanzbehörde alle Voraussetzungen eingehalten hat, die für den Erlass eines wirksamen Steuerbescheids vorgeschrieben sind. Daher kommt es auf den Zugang des Steuerbescheids nicht an, wenn dessen Bekanntgabe wiederholt wird (Anschluss an BGH-Urteile vom 31.10.1989, VIII R 60/88, BFHE 160, 7, BStBl II 1990, 518; vom 19.3.1998, IV R 64/96, BFHE 186, 94, BStBl II 1998, 556; vom 18.6.1998, V R 24/97, BFH/NV 1999, 281).
2. Die Finanzbehörde ist beweispflichtig, dass der Steuerbescheid ihren Bereich rechtzeitig verlassen hat. Dieser Beweis kann nicht nach den Regeln des Anscheinsbeweises geführt werden, wenn die Absendung des Bescheids nicht in einem Absendevermerk festgehalten ist.
Normenkette
§§ 122 Abs. 2 Nr. 1, 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1, § 171 Abs. 10 AO
Sachverhalt
Das FA erstellte vor Ablauf der Festsetzungsfrist den Einkommensteuerbescheid 1986. Die Absendung des Bescheids war in keinem Vermerk festgehalten. Nachdem die Frist abgelaufen und der Bevollmächtigte eine Umbuchungsmitteilung unter Berücksichtigung der neu festgesetzten Steuer erhalten hatte, erklärte der Steuerpflichtige, er habe den Bescheid nicht erhalten. Das FA gab daraufhin einen inhaltsgleichen Bescheid bekannt. Der Kläger war der Auffassung, der Bescheid 1986 hätte wegen Festsetzungsverjährung nicht mehr ergehen dürfen. Demgegenüber war das FA der Meinung, der Bescheid hätte seinen Bereich vor Ablauf der Frist verlassen, auf den Zugang komme es nicht an. Die Klage war erfolgreich.
Entscheidung
Die Entscheidung Der BFH vertrat zwar die Auffassung, die Festsetzungsfrist sei auch dann gewahrt, wenn der Bescheid vor Ablauf der Frist den Bereich des FA verlassen habe. Auf den Zugang komme es nicht an. Andernfalls könne sich ein Steuerpflichtiger endgültig der Besteuerung entziehen, indem er nach Ablauf der Frist den Zugang des Bescheids bestreite. Die Rechtschutzinteressen des Steuerpflichtigen würden ausreichend dadurch gewahrt, dass die Bekanntgabe des Bescheids wiederholt werden müsse und er erneut die Möglichkeit habe, Rechtsbehelfe einzulegen. Das FA habe aber im Streitfall nicht nachgewiesen, dass der Steuerbescheid den Bereich des FA verlassen habe, denn die Absendung sei in keinem Absendevermerk festgehalten. Nach dem vom FA geschilderten Postabsendeverfahren sei nicht auszuschließen, dass Steuerbescheide auf dem Weg zur Post verloren gingen oder sich deren Versendung in der Poststelle verzögere.
Hinweis
Der III. Senat hat sich mit diesem Urteil der Rechtsprechung anderer Senate angeschlossen, wonach ein Bescheid, der kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist den Bereich des zuständigen FA nachweislich verlässt, auch dann die Festsetzungsfrist wahrt, wenn der Bescheid dem Vortrag des Steuerpflichtigen zufolge nicht zugegangen ist. Gleichwohl bleibt abzuwarten, ob dieser Linie alle BFH-Senate folgen werden (s. auch S. 69). Das FA ist allerdings beweispflichtig dafür, dass der Bescheid den Bereich des FA verlassen hat. Das Urteil befasst sich mit der Frage, wie dieser Nachweis vom FA zu führen ist. Nicht erforderlich ist zwar die Führung eines Postausgangs- bzw. Fristenkontrollbuchs, es reicht aber auch nicht aus, dass das FA den üblichen Ablauf des Postversands schildert, wonach der Bescheid das FA innerhalb der Festsetzungsfrist verlassen haben müsste. Vielmehr muss die Absendung des konkreten Bescheids von der Poststelle vermerkt worden sein. Wird wie im Streitfall die Absendung des Bescheids nicht in einem Vermerk der Poststelle festgehalten und ist der Bescheid dem Steuerpflichtigen erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist oder überhaupt nicht zugegangen, ist die Festsetzungsfrist nicht gemäß § 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AO 1977 gewahrt. Das Urteil zeigt Möglichkeiten auf, wie das Postabsendeverfahren vom FA gestaltet werden könnte. So könnte etwa die Poststelle den Durchschlag des Steuerbescheids oder einen dem Bescheid beigefügten Laufzettel, in dem die Absendung des Bescheids mit Datum vermerkt ist, an den Veranlagungsteilbezirk zurücksenden. In vergleichbaren Fällen empfiehlt es sich zu überprüfen, ob die Absendung des Bescheids in einem entsprechenden Vermerk festgehalten wurde.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 28.9.2000, III R 43/97