FinMin Nordrhein-Westfalen, Erlaß v. 8.5.2017, S 0335
1. Grundsätzliches zur Schätzung nach § 162 AO
Eine Schätzung soll in sich schlüssig sein; ihre Ergebnisse sollen wirtschaftlich vernünftig und möglich sein. Ziel der Schätzung ist es deshalb, diejenigen Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben. Dabei ist das Finanzamt grundsätzlich gehalten, diejenigen Erkenntnisse, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich sind, auszuschöpfen. Eine Schätzung ist aber nicht schon deswegen rechtswidrig, weil sie von den – später bekannt gewordenen – tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Unsicherheit, die einer Schätzung anhaftet, kann daher nicht zu Lasten der Finanzverwaltung gehen, weil der Steuerpflichtige durch seine Säumigkeit den Anlass für die Schätzung gegeben hat. Es ist in der Regel ermessensgerecht, wenn sich das Finanzamt bei steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen an der oberen, bei steuermindernden Besteuerungsgrundlagen an der unteren Grenze des unter Berücksichtigung aller Umstände in Betracht kommenden Schätzungsrahmens ausrichtet, weil der Steuerpflichtige durch die Nichtabgabe seiner Erklärung möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (vgl. BFH-Urteile vom 18.12.1984, BStBl 1986 II S. 226, und vom 20.12.2000, BStBl 2001 II S. 381).
Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf einer Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Finanzamt sich nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. So kann es sich verhalten, wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, erheblich von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten. „Strafschätzungen eher enteignungsgleichen Charakters” gilt es zu vermeiden (BFH-Urteil vom 20.12.2000, a.a.O.).
Auch für Schätzungsbescheide gilt das Bestimmtheitsgebot des § 119 Abs. 1 AO. Hinsichtlich der in diesem Zusammenhang auch geforderten Begründung des Verwaltungsakts (§ 121 Abs. 1 AO) genügt grundsätzlich die bloße Angabe der Besteuerungsgrundlagen und der Hinweis, dass diese geschätzt wurden (Urteil des FG Köln vom 6.3.1986, EFG 1986 S. 429). Angaben zu den geschätzten Besteuerungsgrundlagen und den hierzu führenden Anhaltspunkten und Überlegungen sind regelmäßig nicht erforderlich. Der Schätzungsbescheid ist nur dann der Höhe nach zu begründen, wenn hierfür ein besonderer Anlass (z.B. erhebliches Abweichen von den Umsatzsteuer-Voranmeldungen) besteht (BFH-Urteil vom 11.2.1999, BStBl 1999 II S. 382).
Vgl. zu den Anforderungen an die Schlüssigkeit sowie die Begründung des Schätzungsergebnisses auch: BFH-Beschluss vom 28.3.2001, BFH/NV 2001 S. 1217; BFH-Urteil vom 17.6.2004, BFH/NV 2004 S. 1618.
Schätzungen sind als Tatsachenfeststellungen in vollem Umfang durch das Finanzgericht nachprüfbar. Sie sollen deshalb grundsätzlich unter Verwendung des Vordrucks Nr. 605/015 „Schätzung von Besteuerungsgrundlagen” (für Körperschaften: Nr. 605/016) durchgeführt werden.
Ein Verfahrensfehler, der nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zur Zulassung der Revision führt, liegt in Schätzungsfällen erst dann vor, wenn
- die Schätzung gegen das Willkürverbot verstößt,
- wenn das Schätzungsergebnis schlechthin unvertretbar ist (z.B. weil es wirtschaftlich unmöglich ist und sich offensichtlich als realitätsfremd darstellt),
- wenn das Finanzamt bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt oder
- wenn in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen vorgenommen worden sind (BFH-Beschluss vom 3.2.2011, BFH/NV 2011 S. 760 – 761 m.w.N.).
Als Verfahrensrüge kann regelmäßig nicht geltend gemacht werden,
- ob das FG zur Schätzung von Besteuerungsgrundlagen befugt war,
- ob die richtige Schätzungsmethode gewählt wurde,
- in welcher Höhe zu schätzen war und
- ob das FG hierbei gegen Schätzungsgrundsätze verstoßen hat (BFH-Beschluss vom 3.2.2011, a.a.O.)
Der Steuerpflichtige hat es durch die Abgabe der Steuererklärung in der Hand, die zutreffenden Besteuerungsgrundlagen nachzuweisen und die Schätzung zu korrigieren. Sind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit und damit im Zusammenhang stehende Steuerabzugsbeträge zu schätzen, so kann es vielfach zweckmäßig sein, den Sachverhalt durch Ermittlungsmaßnahmen beim Arbeitgeber aufzuklären, falls dieser dem Finanzamt bekannt ist.
2. Anrechnung der Steuerabzugsbeträge bei der Einkommensteuerveranlagung
→ Hinw...