LfSt Bayern v. 22.5.2014, S 0335.1.1 - 4/1 St 42
1. Allgemeine Grundsätze zur Schätzung bei der Nichtabgabe von Steuererklärungen
Das Finanzamt hat zu schätzen, soweit es die Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen kann (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO). Eine Schätzung soll in sich schlüssig sein; ihre Ergebnisse sollen wirtschaftlich vernünftig und möglich sein. Ziel der Schätzung ist es deshalb, diejenigen Besteuerungsgrundlagen zu ermitteln, die die größte Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit für sich haben (BFH-Urteil vom 19.1.1993, VII R 128/84, BStBl 1993 II S. 594). Dabei ist das Finanzamt grundsätzlich gehalten, diejenigen Erkenntnisse, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich sind, auszuschöpfen.
Eine Schätzung ist aber nicht schon deswegen rechtswidrig, weil sie von den – später bekannt gewordenen – tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Unsicherheit, die einer Schätzung anhaftet, kann daher nicht zu Lasten des Finanzamts gehen, weil der Steuerpflichtige durch seine Säumigkeit den Anlass für die Schätzung gegeben hat. Es ist in der Regel ermessensgerecht, wenn sich das Finanzamt bei steuererhöhenden Besteuerungsgrundlagen an der oberen, bei steuermindernden Besteuerungsgrundlagen an der unteren Grenze des unter Berücksichtigung aller Umstände in Betracht kommenden Schätzungsrahmens ausrichtet, weil der Steuerpflichtige durch die Nichtabgabe seiner Erklärung möglicherweise Einkünfte verheimlichen will (vgl. BFH-Urteile vom 18.12.1984, VIII R 195/82, BStBl 1986 II S. 226, und vom 20.12.2000, I R 50/00, BStBl 2001 II S. 381).
Allerdings sind keine Strafschätzungen zulässig. Schätzungen sind auch kein Druckmittel, um den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Steuererklärung zu veranlassen. Hierfür sind nach der AO die Festsetzung von Verspätungszuschlägen und das Zwangsmittelverfahren vorgesehen. Insbesondere von der Möglichkeit der Zwangsgeldandrohung und -festsetzung ist in geeigneten Fällen verstärkt Gebrauch zu machen.
Schätzungsfehler, d.h. der Ansatz von Besteuerungsgrundlagen, die außerhalb des sich aus den Umständen des Einzelfalles ergebenden Schätzungsrahmens liegen, führen regelmäßig auch dann nicht zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheids, wenn mehrere grobe Schätzungsfehler vorliegen, sondern lediglich zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Willkürlich und damit nichtig ist ein Schätzungsbescheid allerdings, wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass das Finanzamt überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt hat. In diesen Fällen spricht der BFH von einem „objektiv willkürlichen Hoheitsakt” (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 15.5.2002, X R 34/99 und BFH-Beschluss vom 20.10.2005, IV B 65/04, BFH/NV 2006 S. 240).
2. Berücksichtigung bereits bekannter Sachverhalte (e-Daten)
Erkenntnisse aus den Vorjahren, Kontrollmitteilungen, Mitteilungen über einheitliche und gesonderte Feststellungen, Veräußerungsmitteilungen, substantiierte Hinweise von dritter Seite, die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs nach § 10d Abs. 4 EStG, Gewerbean- und abmeldungen etc. sind auch im Rahmen der Schätzung zu berücksichtigen.
Ebenso sind sämtliche dem Finanzamt von Dritter Seite übermittelten Daten, zu berücksichtigen, soweit nicht Anhaltspunkte vorliegen, das die Daten falsch sind. Es handelt sich hierbei um
- Lohnbescheinigung(en)
- Lohnersatzleistungen
- Rentenbezugsmitteilungen
- Mitteilungen-freigestellte-Kapitalerträge
- Erträge nach der Zinsinformationsverordnung
- Mitteilung-Altersvorsorgevertrag
- Beiträge-Basisrentenvertrag
- Beiträge-Kranken-und-Pflegeversicherung
Ergibt sich durch die Verwendung der „eDaten” letztlich ein Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen, wird auf die Möglichkeit einen Verspätungszuschlag festzusetzen, ausdrücklich hingewiesen (vgl. hierzu AEAO zu § 152 Nr. 7)
3. Abfrage im Erhebungsspeicher/Kontaktaufnahme mit der Vollstreckungsstelle vor Durchführung der Schätzung
Vor Durchführung der Schätzung ist in jedem Fall eine Abfrage im Erhebungsspeicher durchzuführen. In Fällen, in denen der Steuerpflichtige bereits erhebliche Steuerrückstände hat, ist zur Vermeidung des Entstehens weiterer, nicht beitreibbarer Steuerrückstände vor Erlass des Schätzungsbescheids Kontakt mit der Vollstreckungsstelle aufzunehmen (telefonisch bzw. mit Hilfe der Vorlage „Anfrage Besteuerungsgrundlagen Vollstr” im Ordner Veranlagung/Anforderung Steuererklärung), um dort Informationen über die gegenwärtige Vermögenslage einzuholen. Stellt sich dabei heraus, dass schon die bereits bestehenden Rückstände wahrscheinlich innerhalb eines überschaubaren Zeitraums im Wesentlichen nicht beitreibbar sein werden, sollte sich die Schätzung möglichst an der unteren Grenze des Schätzungsrahmens bewegen. Verfügt die Vollstreckungsstelle über weiter...