Entscheidungsstichwort (Thema)
Kinderfreibetrag auch, wenn das behinderte Kind Eigentümer einer Eigentumswohnung ist. Kinderfreibetrag; Eigentumswohnung; Behindertes Kind
Leitsatz (redaktionell)
- Der Bewilligung eines Kinderfreibetrages für ein volljähriges und zu 80 v.H. behindertes Kind gem. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG steht nicht entgegen, dass das Kind Eigentümer einer Eigentumswohnung ist.
- Die im Gesetz enthaltene Formulierung “wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten” ist zwar identisch mit der Formulierung in § 1602 Abs. 1 BGB. Der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch geht aber über die Sicherung des Existenzminimums hinaus, sodass die Frage, unter welchen Umständen das Kind außerstande ist, seinen Unterhalt selbst zu bestreiten, allein nach den Vorschriften des EStG zu bestimmen ist.
- Da § 32 Abs. 4 S.1 Nr. 1 und 2 EStG den Anspruch auf Abzug eines Kinderfreibetrages bei einem nicht behinderten Kind nicht davon abhängig macht, dass das Kind über kein oder nur geringfügiges Vermögen verfügt, muss das auch für behinderte Kinder i.S.v. § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG gelten.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nrn. 1-3
Streitjahr(e)
1996
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin (Kl'in) für das Streitjahr 1996 für ihre Tochter einen Kinderfreibetrag beanspruchen kann.
Die Kl'in ist alleinstehend. Ihre im Jahre 1969 geborene Tochter lebte von Januar bis Juli 1996 in ihrem Haushalt und ab August des Streitjahres in einer eigenen Wohnung in ... Die Tochter war zum 1. Januar 1996 für die Wohnung der Kl'in gemeldet.
Die Tochter der Kl'in leidet an einer chronischen schizophrenen Psychose. Ihr Grad der Behindert ist mit Wirkung vom 31. Januar 1996 vom Versorgungsamt ... mit 80 v.H. festgestellt.
Die Tochter der Kl'in war Eigentümerin einer im Streitjahr vermieteten Eigentumswohnung in ..., die sie nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1994 geerbt hatte. Mieteinnahmen aus der Wohnung beliefen sich auf jährlich ... DM, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf ... DM.
In dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1996 zog das Finanzamt (FA) weder einen Kinderfreibetrag noch einen Haushaltsfreibetrag ab. Es vertrat die Auffassung, dass die Tochter der Kl'in in der Lage gewesen sei, sich selbst zu unterhalten und deshalb die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages nicht in Betracht komme. Denn es sei ihr zuzumuten, zunächst die Eigentumswohnung zu verkaufen und ihren Lebensunterhalt aus dem Veräußerungserlös zu bestreiten.
Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.
Die Kl'in hat Klage erhoben, zu deren Begründung sie vorbringt, dass ihre Tochter aufgrund der Behinderung nicht in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Um die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Tochter zu fördern, habe sie eine in der Nähe gelegene Eigentumswohnung erworben und an die Tochter vermietet, damit diese lerne, einen eigenen Haushalt zu führen. Langfristig sei geplant, dass die Tochter in die von ihrem Vater geerbte Wohnung einziehe. Schon aus diesem Grunde sei es der Tochter nicht zumutbar zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes die Eigentumswohnung zu verkaufen.
Die Kl'in beantragt,
den Einkommensteuerbescheid 1996 vom ... unter Aufhebung des Einspruchsbescheides vom ... dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer auf ... DM festgesetzt wird.
Der Beklagte (Bekl.) beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Bekl. hält an seiner im Vorverfahren vertretenen Rechtsauffassung fest. Die Tochter sei zunächst gehalten, zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes ihr eigenes Vermögen zu verwerten. Der Verkauf der Eigentumswohnung, die offensichtlich einen Wert von weit über 30.000 DM habe und deshalb kein geringfügiges Vermögen im Sinne von R 190 Abs. 3, R 180 d Abs. 3 Satz 5 der Einkommensteuerrichtlinien – EStR – darstelle, sei ihr auch zuzumuten, da sie die Wohnung nicht selbst bewohne. Die vage Aussicht, die Tochter werde die Wohnung künftig einmal selbst beziehen, lasse den Verkauf nicht als unzumutbar erscheinen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Die Kl'in hat einen Anspruch auf Abzug eines Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz – EStG -, eines Haushaltsfreibetrages nach § 32 Abs. 7 EStG und eines Behindertenpauschbetrages nach § 33b Abs. 2 und 3 i.V.m. Abs. 5 EStG.
1. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist ein Kinderfreibetrag für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat, abzuziehen, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Das Tatbestandsmerkmal “außerstande ist, sich selbst zu unterhalten” ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – BFH – ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigk...