Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Verfahrensruhe wegen Beschwerdeverfahren beim EGMR
Leitsatz (redaktionell)
- Wegen eines beim EGMR anhängigen Beschwerdeverfahrens besteht kein Anspruch auf Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, weil dort ausschließlich der Gerichtshof der EU Erwähnung findet.
- Eine Erstreckung der Vorschrift auf den EGMR durch erweiternde Auslegung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO kommt nicht in Betracht.
Normenkette
AO § 363 Abs. 2 S. 2
Streitjahr(e)
2009
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist, ob das FA verpflichtet war, das Einspruchsverfahren gemäß § 363 Abs. 2 Satz 1 oder Satz 2 der Abgabenordnung (AO) ruhen zu lassen.
Der Kläger ist … im Ruhestand und erzielt daraus Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In seiner Einkommensteuererklärung machte der Kläger u.a. die Aufwendungen für seine private Krankenversicherung als Sonderausgaben geltend. Das FA ließ insoweit nur einen beschränkten Sonderausgabenabzug zu.
Der Kläger machte im Einspruchsverfahren geltend, dass das Einspruchsverfahren im Hinblick auf ein laufendes Beschwerdeverfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR; Beschwerde-Nr. 2795/10) zur sogenannten pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur beschränkten Abzugsfähigkeit von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen (BVerfG-Beschluss vom 13. Februar 2008, 2 BvL 1/06, NJW 2008, 1868) ruhen solle.
Das FA lehnte eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 AO im Einspruchsbescheid ab. Eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO komme aus Zweckmäßigkeitsgründen u.a. nicht in Betracht, weil Entscheidungen des EGMR allgemein keine Wirkungen auf die individuelle Steuerfestsetzungen haben könnten. Dagegen richtet sich die Klage.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers ist in diesem – sowie zwei anderen Verfahren – mit gleichlautenden Begründungen der Ansicht, das FA sei aus grundsätzlichen Erwägungen verpflichtet gewesen, das Verfahren zum Ruhen zu bringen. Es lägen bereits die Voraussetzungen für eine Zwangsruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO vor, da dort der „Europäische Gerichtshof” ausdrücklich erwähnt sei und daher auch der EGMR angesprochen sei. Der EGMR stehe im Übrigen einem obersten Bundesgericht gleich. Das FA habe im Übrigen nicht ermessensfehlerfrei eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO ablehnen können. Durch frühere Entscheidungen des EGMR sei belegt, dass auch bereits abgeschlossene Verfahren wieder aufgenommen werden müssten.
Schließlich und vor allem verstoße die pro-futuro-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Verfassung, weil sie sehenden Auges Unrecht dulde. Die fiskalischen Interessen des Staates dürften nicht in dieser Weise vorrangig berücksichtigt werden. Solange das Bundesverfassungsgericht seine pro-futuro-Rechtsprechung nicht aufgebe, werde den Steuerbürgern effektiver Rechtschutz verwehrt und deren Rechtsschutzmöglichkeiten würden unangemessen in die Länge gezogen. Dadurch entstehe eine überlange Verfahrensdauer und damit ein Verstoß gegen Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Der Kläger beantragt,
den Einspruchsbescheid zur Einkommensteuer 2009 aufzuheben und das FA zu verpflichten, das Einspruchsverfahren sodann gemäß § 363 Abs. 2 AO bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dem Beschwerdeverfahren 2795/10 ruhen zu lassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hält daran fest, dass das FA nicht verpflichtet gewesen sei, das Einspruchsverfahren ruhen zu lassen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Die Entscheidung des FA, das Einspruchsverfahren nicht ruhen zu lassen, verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
a) Der Kläger hatte keinen Anspruch auf ein Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO, da dort ausschließlich der Gerichtshof der Europäischen Union Erwährung findet, wenn von „dem Europäischen Gerichtshof” die Rede ist, und sich der Kläger abweichend davon auf ein beim EGMR anhängiges Beschwerdeverfahren beruft.
Eine durch erweiternde Auslegung des § 363 Abs. 2 Satz 2 AO Erstreckung der Vorschrift auch auf den „Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte” (EGMR) kommt nicht in Betracht und wurde auch von der Rechtsprechung und Literatur in der Vergangenheit gar nicht erst in Erwägung gezogen (vgl. BFH-Urteil vom 26. September 2006 X R 39/05, BStBl. II 2007, 222; Beschluss vom 6. Juli 1999 IV B 14/99, BFH/NV 1999, 1587; Brockmeyer in Klein, AO, § 363 Rz. 17 f und auch Birkenfeld in Hübschmann/ Hepp/ Spitaler, Abgabenordnung/ Finanzgerichtsordnung, § 363 AO Rz. 202). Soweit in jüngster Zeit vereinzelt im Schrifttum vorgebracht wird, der Wortlaut der Vorschrift sei jedenfalls nicht eindeutig und insoweit auslegungsbedürftig und auslegungsfähig (vgl. [PE], NWB 18/2011, 1523; Nebe, Stbg 2011, 256 [257]; Mann, Steuerberater Intern, Beilage zur Ausgabe 7/2011, S. 3 f.) f...