Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers
Leitsatz (amtlich)
Zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers gibt es auch nach Umsetzung der Richtlinie 2016/1919/EU ("PKH-Richtlinie") durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 keinen Anlass.
Normenkette
StPO §§ 140, 142; EURL 1919/2016
Verfahrensgang
LG Göttingen (Entscheidung vom 07.12.2020; Aktenzeichen 12 StVK 253/20) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg/Wümme vom 7. Dezember 2020 ist erledigt.
Gründe
I.
Am 18. September 2006 verurteilte das Landgericht Braunschweig den Beschwerdeführer (nachfolgend auch Verurteilten) wegen gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen - begangen jeweils in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge - zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zugleich ordnete die Schwurgerichtskammer seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt an, die derzeit vollstreckt wird.
Aus Anlass der gemäß § 67e Abs. 2 StGB anstehenden Entscheidung zur Überprüfung der Fortdauer der Maßregel hat sich Rechtsanwalt P mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 für den Beschwerdeführer legitimiert. Der Verurteilte habe ihn beauftragt, ihn bei der nächsten "Anhörung" zu vertreten, und beantrage seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Mit Beschluss vom 27. November 2020 hat die große Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Göttingen mit Sitz bei dem Amtsgericht Rotenburg/Wümme sodann nach Anhörung des Beschwerdeführers die Fortdauer der Maßregel angeordnet. Den Beiordnungsantrag des im Anhörungstermin anwesenden Wahlverteidigers hat die Kammer erst mit Beschluss vom 7. Dezember 2020 zurückgewiesen.
Der Beschluss vom 27. November 2020 ist seit dem 5. Januar 2021 rechtskräftig, nachdem weder der Verurteilte noch die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel eingelegt hatten.
Gegen die seinem Verteidiger am 22. Dezember 2020 formlos bekanntgegebene Entscheidung vom 7. Dezember 2020 hat der Verurteilte hingegen mit Schriftsatz vom 23. Dezember 2020 sofortige Beschwerde eingelegt.
Er vertritt die Auffassung, dass eine rückwirkende Beiordnung zulässig sei. Die gegenteilige Rechtsprechung sei, wie das Oberlandesgericht Nürnberg zutreffend ausgeführt habe, nach der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung nicht mehr mit dem Gesetz vereinbar.
Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liege nicht vor.
II.
Das Rechtsmittel ist als sofortige Beschwerde statthaft (§ 142 Abs. 7 Satz 1 StPO) und sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt worden. Die sofortige Beschwerde ist jedoch wegen prozessualer Überholung nach ihrer Einlegung gegenstandslos geworden und damit nunmehr mangels Beschwer unzulässig.
Im Beschwerdeverfahren ist das Fortbestehen einer Beschwer im Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts Voraussetzung für die Sachentscheidung. Die Beschwer fehlt, wenn das beanstandete Geschehen nicht mehr korrigiert werden kann oder wenn es durch die Entwicklung des Verfahrens überholt ist (KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, 1 AR 1471/05 - 3 Ws 624/05, juris, Rn. 2; KG Berlin, Beschluss vom 6. August 2009, 1 AR 1189/09 - 4 Ws 86/09, juris, Rn. 4; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020, 2 Ws 112/20, juris, Rn. 13; Paul in Karlsruher Kommentar zur StPO, 8. Aufl. 2019, Rn. 7 vor § 296). Ein solcher Fall liegt hier nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über die Fortdauer der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt vor, weil die Beiordnung eines Pflichtverteidigers allein im öffentlichen Interesse zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs erfolgt (BGH, Beschluss vom 18. August 2020, StB 25/20, juris, Rn. 6 f.; KG Berlin, Beschluss vom 27. Februar 2006, a.a.O., Rn. 2; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, 1 Ws 120/20, juris, Rn. 6) und dieses Ziel nach ordnungsgemäßer Durchführung des Überprüfungsverfahrens unter Mitwirkung von Rechtsanwalt P als Wahlverteidiger bereits erreicht ist.
Im Gegensatz zur Auffassung des Oberlandesgerichts Nürnberg (Beschluss vom 6. November 2020, Ws 962 - 963/20, juris) hat sich an dieser Rechtslage auch nach der Reform durch das Gesetz zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 nichts geändert. Denn mit der Neuregelung, die die Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (PKH-Richtlinie) bezweckte, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. dazu S. 20 ff. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, Drucksache 19/13829) gerade kein Systemwechsel verbunden sein (OLG Hamburg, a.a.O., Rn.16). Vielmehr ergibt sich aus den Gesetzesmaterialen (S. 44 der Drucksache 19/1382...