Leitsatz (amtlich)
Liegen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vor und wird der Beiordnungsantrag noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, ist es ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn der Antrag vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde.
Normenkette
StPO § 141 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Stuttgart (Entscheidung vom 09.11.2022; Aktenzeichen 31 Ns 127 Js 99411/21) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des vormals Angeklagten vom 22. September 2022 wird Ziffer 3 des Beschlusses des Landgerichts - 31. Kleine Strafkammer - Stuttgart vom 9. November 2022
aufgehoben.
Dem Beschwerdeführer wird mit Wirkung ab 27. April 2022 Rechtsanwalt ... als Pflichtverteidiger
beigeordnet.
- Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers.
Gründe
I.
Nach Einspruch gegen einen Strafbefehl vom 12. Oktober 2021 verurteilte das Amtsgericht Stuttgart den Beschwerdeführer ... am 18. März 2022 wegen versuchten Diebstahls zu der Freiheitsstrafe von einem Monat.
Gegen das Urteil legten sowohl die Staatsanwaltschaft als auch ... über seinen Verteidiger Rechtsanwalt ... Berufung ein.
Die Akten gingen am 13. April 2022 beim Landgericht Stuttgart ein. Zu diesem Zeitpunkt befand sich ... in Haft. Er war am 16. Februar 2021 durch das Landgericht Heilbronn unter anderem wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit versuchtem Totschlag in zwei tateinheitlichen Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Nach Rechtskraft des Urteils am 28. Januar 2022 wurde die Freiheitsstrafe ab dem 21. März 2022 in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt vollstreckt.
Diesen Umstand teilte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit an das Amtsgericht Stuttgart gerichtetem Schriftsatz vom 14. April 2022, eingegangen beim Landgericht Stuttgart am 27. April 2022, mit und beantragte gleichzeitig seine Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Daraufhin wandte sich der Vorsitzende der Kleinen Strafkammer am 28. April 2022 an die Staatsanwaltschaft und regte im Hinblick auf das Urteil des Landgerichts Heilbronn vom 16. Februar 2021 eine Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO an. Am 4. Mai 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft, entsprechend zu verfahren.
Mit Verfügung vom 5. Mai 2022 wurde die beabsichtigte Einstellung dem Beschwerdeführer und seinem Verteidiger mitgeteilt, woraufhin Rechtsanwalt ... erwiderte, die Bestellung eines Pflichtverteidigers habe dennoch unverzüglich zu erfolgen, ein Zuwarten sei nicht angezeigt.
Mit Beschluss vom 9. November 2022, zugestellt am 18. November 2022, stellte das Landgericht Stuttgart das Verfahren schließlich ein. Es sah dabei davon ab, die notwendigen Auslagen von ... der Staatskasse aufzuerlegen. Im selben Beschluss lehnte es zudem die Beiordnung von Rechtsanwalt ... als Pflichtverteidiger mit der Begründung ab, dass die Beiordnung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO unterbleibe, weil von Anfang an beabsichtigt gewesen sei, das Verfahren einzustellen. Die Voraussetzungen einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung lägen nicht vor.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner sofortigen Beschwerde vom 22. November 2022, eingegangen am 23. November 2022.
II.
1. Die nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte und form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde (§§ 306, 311 StPO) ist auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist die mit der ablehnenden Entscheidung verbundene Beschwer nicht deshalb entfallen, weil das Verfahren zugleich mit der Entscheidung über den Beiordnungsantrag eingestellt wurde und damit die Notwendigkeit einer Verteidigung entfallen ist.
Die Rechtsmittel der Strafprozessordnung sind grundsätzlich nicht darauf ausgelegt, jedes Verhalten nachträglich auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Eine Maßnahme, eine Entscheidung oder ein Unterlassen kann nur dann Gegenstand eines Rechtsmittels sein, wenn davon zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel noch belastende Wirkungen ausgehen und sich diese beseitigen lassen. In Fällen, in denen die angegriffene Entscheidung prozessual überholt oder sonst erledigt ist, ist ein Rechtsmittel zur Feststellung der Rechtswidrigkeit aber dann zulässig, wenn ein besonderes Feststellungsinteresse besteht. Aus dem Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz folgt ein Rechtsschutzinteresse in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe, in denen die direkte Belastung sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in der es dem Betroffenen schwer möglich ist, eine gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz zu erlangen. Dies kommt insbesondere bei Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Freiheitsentziehung und Telekommunikationsüberwachung...